250 Jahre Blitzableiter Die vermeintlich simple Technologie hat sich nur gegen große Widerstände allmählich durchgesetzt. Auch heute noch streiten sich die Forscher über den besten Draht zum Himmel
Es muss ein wahres Inferno gewesen sein. Im Morgengrauen des 18. August 1769 schlug in den mächtigen Turm der San Nazaro Kirche in Brescia der Blitz ein. Unmittelbar darauf erschütterte eine gewaltige Explosion die norditalienische Stadt. Im Radius von einem Kilometer wurden Hunderte von Häusern in Schutt und Asche gelegt. Die Behörden zählten vierhundert Tote, in den Zeitungsberichten war gar von 3000 Opfern die Rede. Der Blitz hatte ein tonnenschweres Pulverdepot in der Kirche getroffen. Die Nachricht verbreitete sich schnell in ganz Europa, Pulvermagazine gab es auch anderswo. Wie aber konnte man sich gegen den Strahl aus den Wolken wirksam schützen? Etwa durch einen "Strahlableiter", den ein gewisser Benjamin Franklin unermüdlich propagierte? Bereits
Bereits Ende der 1740er Jahre hatte der Buchdrucker aus Philadelphia nachgewiesen, dass die Atmosphäre elektrisch geladen ist. Er ließ einen Drachen an einem Metalldraht in die Höhe steigen und konnte daraus Funken ziehen. Hätte der Blitz in den Drachen eingeschlagen, wäre Franklin zum ersten Märtyrer der Elektrizitätslehre geworden. Statt dessen gilt er heute als Erfinder des Blitzableiters und Held im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg: "Eripuit caelo fulmen sceptrumque tyrannis." Dem Himmel hat er den Blitz entrissen, den Tyrannen das Zepter, dichtete ein französischer Verehrer 1778. Franklins Vorschlag, mittels geerdeter Metallstangen den Blitz gefahrlos abzuleiten, wurde vor 250 Jahren, im Mai 1752 in Marly bei Paris von Thomas François Dalibard erstmals praktisch umgesetzt. Es dauerte allerdings noch geraume Zeit, bis sich die Blitzableiter in Europa durchsetzten. In Deutschland wurde erst 1770 auf dem Jacobiturm in Hamburg ein Anfang gemacht. Von einer flächendeckenden Verbreitung der Blitzableiter kann gar erst ab den 1780er Jahren die Rede sein. Warum dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis die Blitzableiter auf den Hausdächern, Scheunen und Kirchturmspitzen sprossen? Einwände kamen etwa von seiten der Theologen: "Alle Blitze und Schläge hat der Herr abgemessen, kein einziger fällt anders, als ihn die ewige Vorsicht bestimmt, sie sind lauter Pfeile in der Hand des Schöpfers, darum ein jeglicher nur just den Punct trifft, wohin er gezielet ist", mahnte der Hamburger Theologe Christian Samuel Ulber im Jahre 1760. Der Blitzableiter käme demnach einer Entwaffnung Gottes gleich, dem lästerlichen Versuch, sich seiner strafenden Gerechtigkeit zu entziehen. Für die Aufklärer war das abergläubischer Starrsinn: "Gegen Ueberschwemmungen baut der Mensch Dämme, und gegen Feuersgefahren hält er allerhand Geräthschaften in Bereitschaft", hielten sie dagegen. Ebenso dürfe, ja müsse man sich auch gegen den "Donnerstrahl" schützen. Die Gelehrten feierten die einfache Metallstange als "Triumphszeichen über Vorurtheile". Alt und neu, falsch und richtig, rückständig und aufgeklärt, schädlich und nutzbringend - in kaum einem Bereich ließ sich das so eindeutig benennen wie beim Blitzschutz. Der Blitzableiter wurde zum Symbol aufklärerischen Selbstverständnisses. Vom Blitz erschlagene Menschen und Tiere, brennende Häuser, zerstörte Kirchtürme und explodierende Pulvermagazine sollten fortan der Vergangenheit angehören, ebenso "abergläubische" Praktiken wie das Gewitterläuten beim Heraufzug eines Donnerwetters. Was blieb, war das Problem der Umsetzung vor Ort. Nicht selten wurde der Blitzableiter nach seiner Errichtung wieder zerstört. In manchen Fällen könnten die Blitzableiter nur unter Militärschutz gegen den Widerstand der Bevölkerung angebracht werden. Der Blitzableiter ist ein lehrreiches Beispiel dafür, dass sich vermeintlich überlegene Technologien nicht blitzschnell "durchsetzen" und überall gleichermaßen akzeptiert werden. Die volkstümlichen Blitzschutzmethoden, das Tragen von Amuletten oder das Auslegen von "Donnerkraut" lassen sich bis ins 20. Jahrhundert nachweisen. Auch das Wetterläuten wurde in Süddeutschland und Tirol bis weit ins 19. Jahrhundert praktiziert. Umfassend verstanden hat man das Phänomen des Blitzes auch heute noch nicht. Was vor allem damit zusammenhängt, dass man den natürlichen Blitz nicht im Labor nachstellen kann. Denn der ist oft mehrere Kilometer lang, simulieren kann man lediglich vier bis fünf Meter lange Blitze. Und da es nur etwa nur alle 50 bis 100 Jahre an einer Stelle einschlägt, müsste man im Freien ziemlich lange warten. Auch wenn die wenigsten der Millionen Blitze, die täglich auf die Erde niedersausen, menschliche Anwesen treffen, so ist der mögliche Schaden groß, vor allem wenn ein Haus voller elektronischer Gerätschaften steckt. Folglich gibt es für Anbieter von Blitzschutztechnologie nach wie vor einen lukrativen Markt. Während die meisten Wissenschaftler und Blitzableiterfirmen nach wie vor auf die klassische Anlage à la Franklin setzen, versuchen etwa einige US-Firmen, angeführt von Heary Brothers, den so genannten "Early Streamer Emission" Blitzableiter (ESE) zu propagieren. Dabei handelt es sich um ionisierende Blitzableiter, die angeblich über einen größeren "Anziehungsradius" verfügen, was die Anzahl der benötigten Blitzableiter verringern soll. Nachdem die US-Brandschutzbehörde entschieden hat, dass die Wirksamkeit von ESE Ableitern nicht vollständig wissenschaftlich begründbar ist, argumentieren Heary Brothers nun ihrerseits damit, dass dies auch für die genaue Funktion der altgedienten Franklinschen Stangen nicht möglich ist. Richtig ist, dass sich die Franklin-Stangen in der Praxis bewährt haben, während es mit der wissenschaftlichen Erklärung nach wie vor hapert. Das mag einen beunruhigen - oder auch nicht. Man muss nicht verstehen, warum eine Technologie funktioniert, solange sie funktioniert, wenn dunkle Wolken am Horizont heraufziehen.
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