„Heute Abend haben wir einen 63-jährigen Patienten in der Notaufnahme aufgenommen. Er wollte mir von sich erzählen, aber er bekam keine Luft, weshalb wir ihn schnell auf die Intensivstation bringen und ihn an ein Beatmungsgerät anschließen mussten. Da schoss es mir durch den Kopf: Vielleicht war ich der letzte, den er gesehen und der mit ihm gesprochen hat.“ Giacomo ist Anästhesist. Als wir uns unterhalten, entschuldigt sich der 32-Jährige dafür, dass es ihm nach einer ermüdenden achtstündigen Nachtschicht in einem Mailänder Krankenhaus schwerfällt, die richtigen Worte zu finden.
Er ist einer von Tausenden von Ärzten und Pflegekräften, die im Kampf zur Eindämmung des COVID-19-Ausbruchs in Italien an vorderster Front stehen.
Mit Gesichtsmaske kollabiert
Zwischen Februar und Mitte März sind die Fallzahlen in weniger als zwei Wochen von ein paar hundert auf über 10.000 gestiegen. Hospitäler im Norden – dem Epizentrum der Epidemie – füllten sich schnell, da viele Patienten für bis zu drei Wochen auf Intensivpflege angewiesen sind. Das Bild einer Gesundheits- und Krankenpflegerin, die während einer Nachschicht mit angelegter Gesichtsmaske zusammenbrach, vor kurzem im Netz verbreitet, wurde zum Sinnbild für die Überforderung des medizinischen Personals.
Ursprünglich stammt Giacomo aus Como, mit 20 zog er nach Mailand, wo er zwölf Jahre lang studierte, um Notfallmediziner zu werden: „Ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen“, sagt er.
Seit drei Wochen steigt er vor Beginn seiner Schicht in einen Schutzanzug mit Brille, Maske und zwei Paar Handschuhen: „Wir sind ausgerüstet, als hätten wir es mit einem Krieg zu tun, in dem chemische Kampfstoffe eingesetzt werden. Wir arbeiten acht Stunden ohne Unterbrechung, können nicht auf die Toilette, nicht trinken, essen oder auch nur den Raum verlassen.“ Es handelt sich um Maßnahmen, mit denen die Ansteckung minimiert werden soll. Dadurch werden die Arbeitsbedingungen ganz besonders hart. Die Pflegekräfte und Ärzte erklären, es sei, als arbeite man in einer Sauna: Viele leiden unter Dehydrierung, die Schutzmaske hinterlässt häufig Kratzer im Gesicht.
Normalerweise kümmert sich Giacomo um Opfer von Autounfällen oder Herzinfarkten. Die Patienten kommen hier immer in kritischem Zustand an. Dennoch sei die Lage jetzt anders: „Erhält ein Patient die Diagnose COVID19, wird er isoliert. Der einzige Kontakt, den er noch hat, sind wir. Es ist aber sehr schwer, einen zwischenmenschlichen Kontakt herzustellen – so, wie wir angezogen sind. Das Schlimmste ist zu wissen, dass sie allein sterben und ihre Familie sich nicht von ihnen verabschieden kann.“ Giacomo hält für einen Moment den Atem an und fügt hinzu: „Jeder einzelne hat eine Geschichte, in die man sich leicht einfühlen kann. Jeder Patient könnte dein Vater, dein Onkel oder dein älterer Bruder sein.“
Ärzte aus Kuba und Venezuela
Mit Ausbreitung der Krankheit stieg die Zahl der Opfer kontinuierlich an, was besonders in Kleinstädten weitere Probleme verursachte. Die Toten füllten die Leichenhallen kleinerer Krankenhäuser, während man auf die Totenscheine wartete, um sie beerdigen zu können. In Bergamo, eine Stunde von Mailand entfernt, funktionierte man die Friedhofskapelle zur Leichenhalle um. „Vor einem Jahr hatten wir durchschnittlich vier Tote pro Tag, heute sind es 22“, berichtet Camillo Bertocchi, Bürgermeister von Alzano Lombardo, einer Kleinstadt in der Nähe von Bergamo, die von dem Ausbruch mit am stärksten betroffen ist.
Eine jährlich durchgeführte Bloomberg-Analyse aus dem Jahr 2019, in der die Lebenserwartung mit den relativen und absoluten Gesundheitsausgaben verglichen wird, stuft die Gesundheitsversorgung in Italien als vierteffizienteste weltweit ein (nach Hongkong, Singapur und Spanien), auch wenn die Ausgaben pro Kopf nur 2.545 Dollar betragen, weniger als die Hälfte dessen, was in Deutschland mit 5.056 Dollar verausgabt wird. In einem Land, in dem die Gesundheitsversorgung von den Regionen verwaltet wird, kommt es auf lokaler Ebene zu beträchtlichen Unterschieden.
In der Lombardei, im Herzen des reichen Nordens des Landes, gilt die Gesundheitsversorgung als eine der besten – und stößt dennoch an Grenzen. Vor kurzem verkündete Roberto Gallera, der für Gesundheit zuständige Rat der Region: Man rekrutiere Ärzte aus China, Kuba und Venezuela, nachdem andere EU-Länder nicht auf die Bitten um schnelle Hilfe reagiert hätten, aus Angst, bald selbst nicht mehr genügend Personal zur Verfügung zu haben. Jetzt fürchten viele, auch im Süden, wo die medizinische Versorgung schlechter ist, könnten die COVID19-Fälle zunehmen.
Entscheidungen, die keiner treffen will
Als am 7. März in der Lombardei eine Ausgangssperre angekündigt wurde, flohen Zehntausende, um in ihre Herkunftsregionen im Süden zurückzukehren. Einen Tag später verkündete Premier Giuseppe Conte eine Ausgangssperre für das ganze Land, um mit dieser extremen Maßnahme zu verhindern, dass das Gesundheitssystem zusammenbricht.
Italien verfügt normalerweise über fast 5.100 Intensivbetten (8,4 pro 100.000 Einwohner). Regierung und Regionalverwaltungen bemühen sich, diese Zahl zu verdoppeln. Dennoch könnte es nicht reichen, sodass der Mangel an verfügbaren Betten den Ärzten eine Wahl aufbürdet, die niemand jemals treffen möchte.
Die Hochschule für Anästhesie, Wiederbelebung und Intensivpflege (SIAARTI) hat bereits Richtlinien für Kriterien herausgegeben, nach denen sich das medizinische Personal richten kann, sollte dieses Szenario Realität werden. Das bedeutet: „Wir werden eine Wahl treffen müssen, die eher ethisch als medizinisch ist“, berichtet der 34-jährige Krankenpfleger Antonio, der auf der Intensivstation eines Mailänder Krankenhauses arbeitet. „Wenn wir zwischen einer 50-jährigen Frau ohne Vorerkrankungen und einer jungen Frau, die an Krebs leidet, wählen müssen, werden wir uns für die gesunde Frau entscheiden, auch wenn sie 50 ist.“
In Rom ist die Situation vorerst unter Kontrolle. Etwa hundert Patienten werden im Nationalen Institut für Infektionskrankheiten Lazzaro Spallanzani behandelt. „Wir sollten diesen Vorsprung von 10 bis 15 Tagen, den wir haben, gut nutzen, um aus dem, was im Norden passiert ist, zu lernen“, sagt Quirino Piacevoli, Regionalkoordinator der Vereinigung der in italienischen Krankenhäusern beschäftigten Anästhesisten (AAROI-EMAC). „Wir laufen Gefahr, die Rechnung für jahrzehntelange Sparmaßnahmen zu bezahlen. Intensivpflege ist teuer und häufig mussten wir Patienten in andere Regionen verlegen“, so Piacevoli, der 20 Jahre lang die Abteilung für Anästhesie und Intensivpflege am ACO San Filippo Neri, einem der größten Krankenhäuser Roms, geleitet hat. „Dies ist das Resultat einer Politik, die Privatkliniken bevorzugt. Nur liegt jedes Mal, wenn es einen Notfall gibt, die Last auf der öffentlichen Gesundheitsversorgung“. Einem Bericht der Gimbe-Stiftung von 2019 zufolge hat der Mangel an Investitionen in das öffentliche Gesundheitssystem im vergangenen Jahrzehnt zu einer Kürzung von 37 Milliarden geführt.
In der Region Marche sind die Auswirkungen bereits sichtbar: In einer Woche wurde die Gegend zum nächsten Hotspot und die COVID19-Patienten füllten schnell die wenigen auf den Intensivstationen vorhandenen Betten. Luca (der darum bat, nicht seinen Klarnamen zu verwenden, da er nicht autorisiert ist, mit der Presse zu sprechen) ist 48 Jahre, Krankenpfleger, verfügt über 23 Jahre Berufserfahrung und arbeitet im Hauptkrankenhaus von Ancona. Vor fünf Tagen wurde er gebeten, von der Intensivstation für Transplantationspatienten, wo er seit drei Jahren arbeitet, in die Beatmungsstation zu wechseln, auf der die COVID19-Patienten behandelt werden.
„Sie nennen uns Engel“
„Meine Reaktion war zwiegespalten: Es ist meine Pflicht, und ich weiß, dass ich dafür gut ausgebildet bin. Aber ich habe sofort auch an meine Angehörigen gedacht und habe Angst, dass ich sie anstecken könnte“, sagt er. Gerade hat er die zweite Nachschicht hintereinander beendet. Mit seiner Exfrau habe er vereinbart, seinen zwölfjährigen Sohn für eine Weile nicht mehr zu sehen.
Der heikelste Moment für ihn ist das Ende der Schicht, wenn er die Schutzausrüstung abnimmt. Es dauert 15 bis 20 Minuten, manchmal aber auch länger, da Luca und seine Kollegen müde und dehydriert sind und ganz bestimmt keine Fehler machen wollen.
Die Region sucht händeringend nach neuen Pflegekräften, es herrscht eine Urlaubssperre. Noch beunruhigender ist, dass alle Ärzte und Krankenpfleger, die sich in Quarantäne befanden, weil sie Kontakt zu Patienten hatten, die danach positiv auf das Coronavirus getestet wurden, zurück an die Arbeit gerufen wurden. Regionalkoordinator Mansueto meint, man könne es sich im Augenblick nicht leisten, dieses Personal zu Hause zu lassen, also werde die gleiche Richtlinie angewendet, die auch für die Bevölkerung gelte: „Selbst wenn man Kontakt zu einem Infizierten hatte, wird man nur auf das Coronavirus getestet, sofern man Symptome zeigt. Die Situation ist beispiellos.“
Mansueto weiß, dass von Pflegekräften und Ärzten erwartet wird, jetzt immer im Einsatz zu sein. Er weist aber auch darauf hin, dass Pflegekräfte mit einem Durchschnittseinkommen von 1.500 Euro pro Monat nach 20 Jahren häufig unterbezahlt sind. „Sie nennen uns Engel, Helden: Das ist in Ordnung, wir lieben unsere Arbeit und während wir sie verrichten denken wir an nichts anderes. Aber wir brauchen auch unsere Rechte.“
Seit Beginn des Ausbruchs haben sich bereits über 2.000 Ärzte und Pflegekräfte infiziert (das sind zehn Prozent der gesamten Fälle). Am Samstag ist in Bergamo ein 47-jähriger Rettungssanitäter gestorben. Er wurde zum Symbol für die Risiken, denen Beschäftigte wie er ausgesetzt sind.
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