Er hat den Körperkonsens in Frage gestellt

Nachruf Der Intellektuelle Peter Radtke brach nicht nur auf der Bühne Tabus. Sein Einspruch wird fehlen
Ausgabe 50/2020

Peter Radtke war gerade ein einhalb, da bekam seine Mutter Besuch von der staatlichen Gesundheitsbehörde. Ob man den Kleinen mit den zerbrechlichen Knochen nicht in ein Kurheim geben wollte. Es war 1944 in Freiburg. Die Mutter, gelernte Krankenschwester, wusste, wie es zugeht. Das Kind in die Kur zu schicken, das bedeutet Euthanasie. Sie weigerte sich. Ein Jahr später war die Nazi-Zeit um, Radtke überlebte, dank der furchtlosen Mutter. Doch das Szenario blieb: Von der Gesellschaft abgelehnt, im Leben bedroht zu sein. „Du musst deinen Kopf einsetzen, sonst kommst Du in ein Heim!“ schärfte ihm die Mutter ein.

Der Sohn folgte dem Rat. Der Kopf brachte ihm eine Promotion in Romanistik ein. Nicht selbstverständlich in Nachkriegsdeutschland für jemanden mit Osteogenesis Imperfecta, den sogenannten „Glasknochen“. Die Volksschule hatte ihn nicht aufnehmen wollen, ein Hauslehrer unterrichtete das begabte Einzelkind. Später eine Ausbildung als Übersetzer und Dolmetscher, Abitur am Abendgymnasium, Studium in Regensburg. Auf Umwegen wurde der Sohn eines Schauspielers Leiter des „Behindertenprogramms“ der Münchener Volkshochschule.

Erst sein Körper aber machte aus ihm den Aktivisten, den Künstler, den scharfen Kritiker der Bioethik, den gefragten Intellektuellen. „Meine Behinderung steht mir nicht im Weg, sie hat mir viele Wege überhaupt erst eröffnet“ beteuerte Radtke oft, wenn es wieder Mitleid hagelte angesichts seines Rollstuhls, seiner krummen Glieder, seiner über hundert Knochenbrüche. Sein Körper war es, der ihn auf die Theaterbühnen der Münchener Kammerspiele und des Wiener Burgtheaters brachte, und auf die Kinoleinwand, in „Die Rättin“ und „Mutters Courage“. Den behinderten Körper zu zeigen, machte ihn zum Provokateur in einer Gesellschaft, in der „Inklusion“ noch ein Fremdwort war und ein öffentlicher behinderter Körper ein Skandal.

„Das Theater darf vieles – das darf es nicht“ urteilte etwa die Stuttgarter Zeitung 1985, als Peter Radtke in George Taboris Medea-Version „M“ auf dem Boden spielte, - krabbelnd, liegend, außerhalb seinen Rollstuhls. „Der Regisseur manipuliert den behinderten Schauspieler“ mahnte ein Teil der Presse, als Radtke mit freiem, schiefen Oberkörper in Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ den Affen Rotpeter spielte. Dabei stellten gerade Auftritte wie diese den nichtbehinderten Körperkonsens in Frage, brachen mit der allgegenwärtigen Scham vor Behinderung.

Auch wenn Radtke sich der in den 1980er Jahren aufkeimenden Behindertenbewegung nicht zugehörig fühlte, zumindest öffentlich war er einer ihrer Protagonisten. Schon in seiner ersten eigenen Inszenierung „Nachricht vom Grottenolm“ im Jahr 1981 rief er dem geschockten nichtbehinderten Publikum zu: „Und jetzt ist unsere Zeit. Jetzt sind wir da. Lauter kleine Krüppel! Und wir werden immer neue Krüppel hervorbringen!“ Mit dem Münchener Crüppel Cabaret brachte er behinderte Menschen auf die Bühne, mit der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien ins Fernsehen. Radtke gründete die Gesellschaft für Osteogenesis Imperfecta Betroffene und mischte sich in die aufkommenden Debatten um Lebensrecht und Lebenswert behinderter Menschen ein.

„Mir graust es, wenn ich sehe, in welche Richtung wir als Gesellschaft gehen“ sagte Radtke mit Blick auf die Fortschritte der Gentechnik, die behindertes Leben zunehmend aussortieren. Dass sein Leben auch Sinn hätte, wenn er „einfach nur existieren“ würde, ohne Doktortitel und Theaterkarriere, dass menschliche Vielfalt ein Gut ist, das bewahrt werden muss – das hielt er Ethikern wie dem Utilitaristen Peter Singer entgegen, der den Lebenswert behinderter Menschen in Frage stellt. Radtke, seit 1974 mit Gertraud Radtke verheiratet, Vater einer Adoptivtocher, verwies auf sein eigenes Glück, erzählte von vielen Reisen, und vom Leid, das Mensch-Sein auch bedeutet. In der Talkshow „Live aus der alten Oper“ fragte er 1987 den Sterbehilfe-Arzt Julius Hackethal, ob es nicht vielmehr die nichtbehinderte Gesellschaft selbst sei, die von Tod und Leid „erlöst“ werden wolle. Von 2003 bis 2008 gehörte er dem Nationalen Ethikrat an, von 2008 bis 2016 dem Deutschen Ethikrat – als erster Experte mit Behinderung. Gerade jetzt, wo die Rufe nach einer radikalen Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe und nach einer Ausweitung der Pränataldiagnostik laut sind, wird sein Einspruch fehlen.

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