Leterme beim König!” Wenn sich die häufige Zerrissenheit belgischer Politik in drei Worten ausdrücken lässt, sind es diese. Nicht weniger als fünf Mal suchte Yves Leterme seit seinem Wahlsieg vom Sommer 2007 den Monarchen Albert II. auf, um einzugestehen, dass er am Ende sei: Zunächst mit seinen Verhandlungskünsten, als es darum ging, überhaupt eine Koalition zu formieren – später mit seiner Regierung. Jedes Mal kehrte er mit der Order zurück, in Regierungsverantwortung zu bleiben. Schließlich hatte er mit dem Wahlergebnis vom 10. Juni 2007 einen klaren Auftrag erhalten. Doch nun – nach dem Fall seines zweiten Kabinetts Ende April – ist unwiderruflich Schluss. Bei Neuwahlen im Juni steht Leterme – einst de
der Hoffnungsträger für die flämische Christdemokratie – nicht mehr in der vordersten Reihe.Unbeholfener IgnorantDass es ausgerechnet diesem Politiker in drei Jahren nicht gelang, Flamen und Wallonen kompromisswilliger zu stimmen, mutet angesichts seiner Biografie merkwürdig an: Yves Leterme ist Sohn eines frankophonen Vaters und einer flämischen Mutter. Geboren wurde er in Wervik im abgelegenen Südwesten des Landes, wo die Provinz Westflandern an Frankreich stößt. Bilingual wuchs Leterme auf, an den renommierten flämischen Universitäten Leuven und Gent studierte er Jura und Politikwissenschaft – sein Fußballherz schlug immer für das wallonische Aushängeschild Standard de Liège.Ein Mittler war Leterme in seinen Amtszeiten – ab 2004, als flämischer Premierminister, dann als Regierungschef aller Belgier – trotzdem nie. Im Gegenteil. Kurz nach seinem Wahlsieg von 2007 bat ihn am Nationalfeiertag ein Reporter, die belgische Hymne zu singen. Worauf Leterme grinsend und ungerührt die Marseillaise anstimmte. Aus Absicht oder Unkenntnis? Die Frage blieb unbeantwortet. Wer also war er als Politiker? Ein unbeholfener Ignorant oder doch ein Provokateur mit Hang zum gezielten Affront? Letzteres schien sich zu bestätigen, als er die fehlenden Flämisch-Kenntnisse vieler frankophoner Belgier öffentlich mit deren intellektuellen Kapazitäten begründete.Für einen Regierungschef war der Drang zum Polarisieren eine denkbar schlechte Voraussetzung, zumal er mit dem Willen antrat, das Verhältnis zwischen der föderalen Regierung und den Regionen durch eine Staatsreform neu zu fassen – zugunsten der Regionen. Doch wirkte Leterme in diesen Verhandlungen immer wie der Chef der größten flämischen Partei, der christdemokratischen CD, und nicht wie ein Anwalt aller Belgier.Erst später, als er nach einer gesundheitsbedingten Zwangspause ausgezehrt und angeschlagen auf die politische Bühne zurückkehrte, bemühte er sich demonstrativ um Ausgleich. Da aber blieben die heikelsten Themen bereits Spezialisten und nicht mehr dem Brüsseler Regierungschef überlassen, der als Elefant im Porzellanladen verrufen war.Wer jedoch in Leterme den Totengräber einer flämisch-wallonischen Verständigung sieht, wird der Komplexität der Materie nicht gerecht. Seinem Aufstieg und Fall wohnt auch eine Tragik inne, die reflektiert, wie sehr eine auf Kompromisse bedachte belgische Innenpolitik ausgereizt ist. Seinen erdrutschartigen Wahltriumph von 2007 verdankte Leterme einer Agenda, die mehr Befugnisse für die Regionen vorsah. Bezeugt haben das zahlreiche Banner mit dem flämischen Löwen, die danach bei den Christdemokraten geschwenkt wurden, während die belgische Trikolore unerwünscht schien. Die Flammenschrift an der Wand war unübersehbar. Und im frankophonen Belgien begann das Zähneklappern.Die Geister, die er rief Dass Letermes Programm von seinen Anhägern so ungemein positiv quittiert wurde, offenbarte das Dilemma: Ohne eine auf Identität bedachte Agenda gibt es in Flandern keinen Wahlsieg – und mit ihr keine Verständigung, die von den Frankophonen erhört wird. Die Geister, die Leterme gerufen hatte, wurde er folglich bis zum Schluss nicht mehr los. Gefangen im Widerspruch zwischen regionaler Parteilichkeit und föderaler Pflicht drehte er sich drei Jahre lang im Kreis. Steckte der Karren zu tief im Morast, schickte ihm der König einen Helfer, dem die Rolle des Mediators vom Charakter her mehr zu liegen schien: Guy Verhofstadt, Herman Van Rompuy, Jean-Luc Dehaene.Dass der Regierungschef Leterme kurz nach dem jetzigen Fall seiner Koalition erklärte, er trage daran keine Schuld, klingt absurd, auch wenn politische Mediation in Belgien nicht allein eine Frage der Persönlichkeit ist: Leterme mag ein störrischer Tolpatsch sein, doch gehört er mit 49 Jahren zweifellos zu einer Generation, die ihre Sozialisation in rein flämischen oder frankophonen Milieus erlebte. Die Spaltung der belgischen Parteien in den siebziger Jahren erfuhr Leterme in seiner Laufbahn durchweg als kaum verrückbaren Status quo. Der Vorrang flämischer Partikular-Interessen war dabei so selbstverständlich wie zuvor die Verständigung über die Sprachgrenze hinweg.Drei Jahre lang hat Yves Leterme vergeblich versucht, Belgien zu regieren. Er wurde in dieser Zeit zum Symbol für den Abbruch von Gesprächen, das Scheitern von Koalitionen und – wie es belgische Medien in Anspielung auf die französische Bedeutung seines Namens formulierten – ganz allgemein für das Ende an sich. Sein Abgang zeigt den Verlust einer Kultur des Ausgleichs, wie sie das Land einst kannte.