Reportage In der Stadt Antakya in der Türkei versuchen die Bewohner:innen die erlebte Katastrophe mit einer Perspektive zu verbinden: Man vergewissert sich seiner eigenen Kraft für den Wiederaufbau und nimmt den verlorenen Faden des Lebens wieder auf
Als „Farfur“ greift Hasan Özgün (links) in naiver Weise höchst politische Themen auf
Foto: Johanna Bröse
Wir werden uns für immer an die Stimmen erinnern, die aus den Trümmern um Hilfe schrien“, ruft Hasan Özgün ein paar Dutzend Menschen zu, die sich vor ihren Zelten versammelt haben. „Auch für sie tragen wir Verantwortung, unsere Stadtteile und unsere kollektiven Traditionen wieder aufleben zu lassen.“ Es ist ganz still geworden in der kleinen Zeltstadt im Viertel Harbiye, einige Kilometer südlich des Zentrums von Antakya, der 400.000-Einwohner-Stadt in der südtürkischen Mittelmeerregion. Die mehrheitlich älteren Menschen hören Özgün aufmerksam zu, der abwechselnd auf Türkisch und Arabisch spricht. Es ist der 40. Tag nach den verheerenden Erdbeben, an dem sich die Menschen im Nieselregen versammelt haben.
Der Z
Der Zeitpunkt markiert in der Region das Ende einer Trauerphase, nachdem ein Mensch verstorben ist. In Antakya, wo ein Großteil der bisher ermittelten 50.000 Toten des Bebens lebte, sagt man, es habe noch nicht einmal die Zeit zum Trauern gegeben. Ununterbrochen seien die Menschen beschäftigt gewesen, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu sichern: Ein (Zelt-)Dach über dem Kopf, regelmäßige Mahlzeiten, Zugang zu Trinkwasser, Bekleidung, um Schutz vor Kälte und Regen zu finden.Mit der Zusammenkunft an diesem Abend schaffen sich die Menschen nun Raum für das Gedenken, auch für Wut und Widerstand. Was im Stadtteil Harbiye mit dem Anzünden von Weihrauch und dem Verteilen von Myrtenzweigen einen Abschluss findet, wird am Folgetag in der benachbarten Stadt Samandağ Hunderte Menschen – hauptsächlich Frauen – auf die Straße bringen. Zwischen eingestürzten Gebäuden verlangen sie nicht nur einen umfassenden staatlichen Beistand, sondern rufen auch: „Kein Vergessen, kein Vergeben! Wir gehen nicht, wir sind hier!“Im Feuerschein des alten Bollerofens in Harbiye nicken die Anwesenden. Was Özgün zu sagen hat, ist keine abstrakte politische Propaganda. Er versucht, das Erleben der Erdbebenopfer mit einer Perspektive zu verbinden, die darin besteht, sich der eigenen Kraft zu versichern. Über die Grenzen von Antakya hinaus kennen viele Menschen Özgün als „Farfur“, das heißt, als fiktiven Charakter, mit dem der Aktivist bei Festen und Zusammenkünften auftritt.In dieser Region leben viele Angehörige des Volkes der arabischen Aleviten. Die Bevölkerungsgruppe ist seit Jahrhunderten kultureller und politischer Unterdrückung ausgesetzt. Sie lebt im ständigen Kampf um die Anerkennung ihrer Sprache und religiösen Stätten. Das Erstarken dschihadistischer Akteure in Nordsyrien verstärkt die Sorge, verdrängt zu werden. Mit dem Charakter „Farfur“ – ein Mann aus dem Volk, der auf naive Art und Weise höchst politische Themen aufgreift – schuf sich Özgün eine Möglichkeit, auf den alltäglichen Kampf der Aleviten um Selbstbehauptung aufmerksam zu machen.Schon am ersten Tag nach den Erdbeben begann der fast blinde Mann gemeinsam mit anderen Freiwilligen die Überlebenden von Antakya zu unterstützen. Zunächst wurde ein Koordinierungszentrum am Armutlu Semt Pazarı gegründet, dem Wochenmarkt inmitten der Stadt. Von dort organisierten die Helfer, dass Verschüttete geborgen und Bedürftige durch eine mobile Suppenküche versorgt wurden. „In der Schlange standen Soldaten zwischen Freiwilligen der Kommunistischen Partei TKP und der faschistischen MHP“, erinnert sich Özgün. „Da es sonst nichts anderes gab, kamen alle zu uns.“ Wochen später wurde das Koordinierungszentrum von staatlichen Sicherheitskräften geräumt. Die Arbeit Özgüns und seiner Unterstützer verlagerte sich anschließend an andere Orte, etwa in das Viertel Harbiye.FrühlingserwachenObgleich auch in diesem Teil der Stadt viele Häuser eingestürzt, ganze Straßenzüge verwüstet sind, noch Menschen unter den Trümmern begraben liegen, sagt man uns immer wieder: Die Hanglage hätte Schlimmeres verhindert. Die Gegend hat einst aus kleineren Häusern bestanden, umgeben von Zitronenhainen und Lorbeergärten. Vielen Überlebenden ist es möglich, auf eigenem Grund und Boden oder in der Nähe ihrer ursprünglichen Behausung in einem gemeinsamen Camp zu bleiben. Das bedeutet, nicht in die außerhalb der Stadtgrenze errichteten staatlichen Container-Siedlungen ausweichen zu müssen. Die liegen oft an den staubigen Schnellstraßen, auf denen Lastwagen unaufhörlich Trümmer und Schutt abtransportieren. Die Menschen befürchten, dort zu sehr von staatlicher Versorgung abhängig zu sein, dadurch entmündigt und aus ihren vertrauten, lokalen Strukturen gerissen zu werden. Das trifft nicht zuletzt auf die Aleviten zu. In deren Familien wird ein arabischer Dialekt gesprochen, der bis heute stigmatisiert wird. Abseits ihrer vertrauten Nachbarschaft, fürchten viele, werden sie keine Zukunft aufbauen können. Die kleine Selman-Nasır-Eskiocak-Grundschule ist eines der wenigen Gebäude in Harbiye, die während der schweren Beben im Februar kaum beschädigt wurden. Heute stehen im Innenhof der Schule 20 große Zelte aus dicker Plastikfolie. Darin wohnen Familien, die das Inferno überlebt haben. Ihre Gemeinschaft hat sich so etwas wie eine kleine Kommune geschaffen, in der noch viel improvisiert werden muss, sich aber auch Routine eingestellt hat. Genossen der sozialistischen Partei Toplumsal Özgürlük Partisi (TÖP/Partei für gesellschaftliche Freiheit), zu denen auch Özgün gehört, haben diese kleine Gemeinde unmittelbar nach der Katastrophe aufgebaut, sekundiert von der Nachbarschaft.Gleichwohl: Die anhaltenden Regenfälle bringen die Zeltstädte an ihre Grenzen, wenn die Plätze überflutet werden, auf denen die Camps entstanden sind. Und noch immer sind die Nächte in Harbiye recht kalt. Auch im Hof der Eskiocak-Grundschule brennt ein Feuer. Hier haben sich die Bewohner nach dem gemeinsamen Gedenken auf dem Nachbar-Zeltplatz am Abend noch zu einem eigenen Meeting zusammengefunden. Als es darum geht, wie die Nachtwache reorganisiert werden soll, gibt es plötzlich eine lebhafte Debatte: „Brauchen wir überhaupt eine Nachtwache? Wir haben doch die Soldaten auf dem Hof der Gesamtschule hier direkt neben uns, die auf uns aufpassen“, wirft Mehmet ein, der seinen vollständigen Namen nicht nennen möchte. „Wenn du den Soldaten vertraust, dann nimm doch dein Zelt und schlag es bei denen im Hof auf!“, entgegnet Vedia İşyar. Kurz nachdem sich die Kommune konstituiert hatte und erkennbar wurde, dass die Aktivisten von TÖP federführend an der Organisation beteiligt waren, wurden im Nebengebäude zahlreiche Soldaten stationiert. Zwar sind die zumeist mit Fußballspielen beschäftigt – nur hin und wieder führen sie Personenkontrollen auf der Straße vor den beiden Schulhöfen durch –, doch die Präsenz des türkischen Staates in Gestalt der Armee sorgt für Unbehagen unter der Bevölkerung von Harbiye. Dass der Staat mit seinen Sicherheitskräften in den ersten und schwersten Tagen nach den Erdbeben nicht vor Ort war, um die Verschütteten aus den Trümmern zu bergen, ist vielen hier im Gedächtnis geblieben. Dass die Soldaten nun eines der letzten vermeintlich sicheren Gebäude als improvisierte Kaserne nutzen, trifft umso mehr auf Unverständnis.„Wenn die abziehen würden, könnten wir endlich den Platz für unsere Kinder-Workshops nutzen“, sagt Hatice Göz. Die Psychologin kommt immer wieder aus Ankara in die Region, um psychologische Hilfe für die Überlebenden zu leisten. Vor allem die Kinder und ihre Mütter seien überfordert mit dem Trauma, umso wichtiger wären geschützte Plätze für Bewegungsspiele und Kreativität. Aller Trauer und Sorge um den Alltag zum Trotz bricht der Frühling an in Antakya: Die andauernden Regenfälle sorgen eben auch für einen fruchtbaren Boden. Über die alltäglichen Anstrengungen hinweg richten die Menschen ihren Blick nach vorn: In Richtung Evvel Temmuz, das sind traditionelle arabisch-alevitische Feiertage, an denen im Juli eine erfolgreiche Ernte und das kollektive Aufteilen der Erträge unter der Bevölkerung zelebriert wird. Evvel Temmuz hat in diesem Jahr an Bedeutung gewonnen: Es symbolisiert die Hoffnung auf den Wiederaufbau der Heimat und die Rückkehr ihrer Bewohner. Placeholder authorbio-1
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