Hinten im Buch findet sich eine handgezeichnete Karte der zentralen Schauplätze des Romans: der Stausee mit seinen Dämmen, das Dorf Seryong, die Dammbrücken, die Pinieninsel; die ganze kleine Welt, wie sie von der Fiktion und den Figuren darin bespielt wird. Solche Karten gab es früher oft, und gibt es gelegentlich heute noch, im Rätselkrimi. Dort zählt das Detail: Wer war wann wo und hatte also Gelegenheit, die Taten, die meist Morde sind, zu begehen. Um Taten, meist Morde, geht es in Jeong Yu-jeongs Sieben Jahre Nacht. Ein Rätselkrimi ist das Buch aber nicht.
Was es stattdessen ist, ist gar nicht so einfach zu sagen. Die Autorin ist ganz sicher nicht „Koreas Stephen King!“, wie der Verlag auf dem Umschlag ohne Quellenangabe behauptet. Es geht
behauptet. Es geht nicht um ein Grauen, das von außen und innen in eine heil scheinende Welt eindringt. Vielmehr ist fast alles zu Beginn schon geschehen: Ein Sohn ist zum Ausgestoßenen geworden, weil der Vater ein vielfacher Mörder ist. Dieser hat ein Mädchen und seine eigene Frau getötet, er hat den Staudamm geöffnet, das Tal darunter geflutet und so den Tod vieler ganz unbeteiligter Menschen verursacht. Wie es dazu kam, was ihn dazu brachte – und auch, dass es sich doch etwas anders verhält, als man denkt –, davon erzählt der Roman.Metaebenen, FragmenteDer Grundstruktur nach also analytisch, Erzählen von hinten nach vorne: die Tat, und wie es dazu kam. Innerhalb dieser Struktur jedoch interessiert sich Jeong für alles andere als schnelle und übersichtliche Erschließung. Eher fügt sie die Details des Geschehens zusammen wie ein wenig (oder ein besonders) geübter Puzzlespieler ein Puzzle. Nicht von den Ecken und Rändern her, sondern Fragment für Fragment, ohne dass man gleich erkennt, wie die Fragmente genau zusammengehören. Erst nach und nach und in wachsenden Inseln ergibt sich ein Bild. Für die Leserin und den Leser ist das zunächst ein gemischtes Vergnügen. Man erfährt Details über Personen, deren genaue Umrisse man lange nicht richtig erkennt; man sieht Archipele einer zusammenhängenden Handlung entstehen, ohne zu wissen, wie sich das eine ins andere fügt.Natürlich hat das Methode. Jeong zaubert immer noch einen Twist, eine Vorgeschichte und irgendwann sogar eine Metaebene hervor. Weite Teile dessen, was man liest, sind selbst ein Roman, beziehungsweise Fragmente davon; Bruchstücke eines unvollendeten, durch die ihn einholende Handlung erst noch zu vollendenden Romans, der seinerseits das Geschehen rekonstruiert. Die Erzählung davon, was geschah, splittert sich auf in Perspektiven: Man erfährt, wie Sowon mit der Schuld seines Vaters lebt, wie sie ihn verfolgt und zum Ausgestoßenen macht; man blickt aber auch tief, sehr tief in die Vergangenheit und in die Seele des Vaters und Mörders und gescheiterten Baseballspielers Choi Hyunsu, der weniger ein schlechter Mensch ist als ein armer Tropf, dem im Leben eigentlich alles misslingt; und man blickt ins Innere seiner von Ehrgeiz zerfressenen Frau, der sich durch eigenes Zutun viel mögliches Glück in Unglück verkehrt. Der eigentliche Schurke des Romans freilich ist ein reicher Zahnarzt namens Yi Youngjae.Yi Youngjae ist Besitzer des Landschaftsparks, der an den Stausee angrenzt. Er misshandelt Frau und Tochter im Glauben, die beiden bedürften der ständigen brutalen Korrektur, und zwar durch niemand anderen als ihn selbst. Yi ist der eigentliche Finsterling des Romans, seine Schwärze macht, was an den anderen schwarz ist, noch schwärzer, und jene, die unschuldig sind, stürzt er in Unglück und Tod. Aber es wächst, wenngleich schwach, etwas Rettendes auch: Ahn Sunghwan, Angestellter von Yi, Beschützer des Sohns, Autor des Romans im Roman, mit Absicht etwas unkonturiert bleibende Figur, die weniger die Fäden zieht, als dass sie dem fädenziehenden Schurken in den Arm fällt, wo es nur geht.Hyperaktive SeelenhydraulikViel Wasser ist in dieser Erzählung. Nicht nur steht das gestaute Wasser des Sees für Stauungen psychischer und anderer Art. In seinen Alpträumen geht der Vater wieder und wieder zum Brunnen der Kindheit und wirft die Schuhe des eigenen Vaters hinein. Und unten, tief unten im Stausee Seryong liegt ein verlassenes Dorf, in das die Tote, die auch den Namen Seryong trägt, hinabfällt, vor den Augen des tauchenden Ahn. Sieben Jahre Nacht ist Kriminalliteratur als hyperaktive Seelenhydraulik, wieder und wieder werden Bruchstücke der Vergangenheit an die Oberfläche gespült.Das ist im ständigen Wechsel der Perspektiven durchaus desorientierend. Man hat als Leser nie wirklich festen Boden unter den Füßen, obwohl es eben nicht um rätselkrimitypisches Miträtseln geht; nur passagenweise um thrillertypische Spannung. Und auch die Auflösung macht nichts wieder gut. Eher herrscht hier eine Logik fundamentaler Verunsicherung: Es kommt immer wieder etwas nach oben, es kommt immer noch etwas nach. Ein letzter Tauchgang ins Meer mit Asche und Urne: Das Wasser als Grab, jetzt endlich, hofft man, ist wenigstens Ruhe.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2
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