Als sie sehen, wie die weißen Steine in die Höhe wachsen, beginnen die ersten Passanten zu klatschen. „Gut gemacht“, ruft einer. „Schmeißt besser gleich eine Bombe rein“, findet ein anderer. Die städtische Siedlungs-Aktiengesellschaft (Saga), deren Zentrale da im Frühjahr 1982 von einigen Punks zugemauert wird, ist nicht beliebt in Hamburg. Viele alte Häuser hat sie abreißen lassen und durch Neubauten ersetzt, die mit „gesichtslos“ noch wohlwollend beschrieben sind. Die Zeiten, in denen es sich in solchen Wohnungen wenigstens günstig leben ließ, sind in den frühen achtziger Jahren lange vorbei. Wegen „horrender Mieterhöhungen“ suchen 80 Anrufer pro Tag Hilfe, berichtet der Hamburger Mieterverein, der in solchen Dingen nicht zu übertreiben pflegt. Das Happening mit den Betonsteinen hat freilich noch einen anderen Hintergrund: Es ist eine Retourkutsche von Bewohnern der Hafenstraße für einige von der Saga vermauerte Wohnungen in den besetzten Häusern am Hafenrand. Zum ersten Mal wird deutlich, dass sich beide Seiten bei dieser Konfrontation nichts schenken – spätestens ab Mitte der achtziger Jahre wird der Konflikt um die Hafenstraße die Hansestadt in zwei Lager spalten.
Im Spätsommer 1981 hatte sich herumgesprochen, dass Wohnungen auf St. Pauli leer stehen. Sie lagen in acht Altbauten mit Elbblick, deren Abriss längst beschlossene Sache war. Die Stadt wollte hoch hinaus: Tchibo wie Gruner und Jahr zeigten sich interessiert, ihre Firmenzentralen am Hafenrand zu bauen. Bis zu 22 Geschosse erlaubte der Bebauungsplan. Doch während mit den Unternehmen diskret verhandelt wurde, wohnten in diesem Viertel noch Mieter mit Verträgen aus den dreißiger Jahren und Studenten.
Einer von ihnen war Claus Petersen, der 1976 in die Hafenstraße zog. „Hier schlug das Herz von Hamburg. Da wollte ich auch hin. Und die hatten tatsächlich ein Zimmer frei“, erinnert sich der drahtige 64-Jährige. Studenten hätten ihre bis zu 100 Quadratmeter große ehemalige Kapitänswohnung über die Sozialpädagogische Forschungsgemeinschaft (Sofog) mieten können – ein Verein mit guten Beziehungen zur regierenden SPD. Doch irgendwann Anfang 1982 gab es für die Sofog nur noch Gewerbemietverträge mit vier Wochen Kündigungsfrist. An zusätzliche Wohnungen war nicht mehr zu denken. Die Zeichen standen auf Abriss, sollte nicht etwas dagegen getan werden.
„Ein Wohnhaus ist kein Abrißhaus"
„Drei, vier Monate hat es gedauert. Dann waren die Häuser voll. Die Leute kamen von überall her. Es lief über Mund-zu-Mund-Propaganda“, erzählt Petersen. „Es gab einen Architekten, der sie warnte, dass vor dem Wintereinbruch etwas gemacht werden müsse, sonst würden die Häuser das nicht aushalten.“ Die frühen Besetzer erledigten die nötigsten Arbeiten selbst, nach längeren Verhandlungen bekamen sie dafür einen Zuschuss von der Stadt. Die Saga ließ sie gewähren, selbst als ein Transparent an der Fassade hing: Besetzt – Ein Wohnhaus ist kein Abrißhaus!
In Hamburg war gerade Wahlkampf, die SPD und Bürgermeister Klaus von Dohnanyi mussten um ihre Mehrheit fürchten, eine Debatte um besetzte Häuser konnten sie nicht gebrauchen. Die Saga versuchte, den Konflikt unter der Decke zu halten – selbst das Happening mit der Mauer (von dem es keine Fotos gibt) wollte sie nicht an die große Glocke hängen. Die renitenten neuen „Instandbesetzer“ auf St. Pauli machten dem damaligen Bausenator Volker Lange derweil bei einem Wahlkampftermin in der dortigen Bücherhalle mächtig Dampf. Der stimmte einem Gespräch zu, das Mitte Mai 1982 zustande kam. Danach durften die Besetzer bleiben. Gutachter sollten prüfen, ob die Häuser saniert werden könnten.
So naiv zu glauben, dass die Pfeffersäcke im Senat es damit bewenden lassen würden, waren die inzwischen gut organisierten Bewohner nicht. „Es war überhaupt keine Frage, dass es eine Revolution um diese Häuser geben wird. Die konnten das nicht dulden, dass eines der exorbitant teuersten Grundstücke der Stadt besetzt wurde“, sagt Petersen. Einen Aufschub brachten die ungeordneten „Hamburger Verhältnisse“ nach der Wahl. Die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Walther Leisler Kiep wurde zwar stärkste Partei, fand aber keinen Koalitionspartner. Die FDP hatte die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt. Die erstmals in der Bürgerschaft vertretenen Grünen, die in Hamburg GAL hießen, begannen Tolerierungsverhandlungen mit der SPD. „Wir werden in der nächsten Zeit wohl reichlich Unterstützung brauchen, da leider nicht alle halbe Jahre Neuwahlen anstehen, auch wenn es zur Zeit so aussieht“, schrieben im Juni 1982 die Besetzer in der taz. Sie unterschrieben mit: Erfolg den Hütten, Krieg den Palästen!
„Hausbesetzer-Politik“
Waren anfangs meist junge Punks in die Häuser eingezogen, gab es nun verstärkt Zulauf von politisch Aktiven. Das Plenum der Hafenstraße wurde zum linksautonomen Zentrum, das genau wusste, wie es das Establishment herausfordern konnte. Während im übrigen Stadtgebiet alle besetzten Häuser innerhalb eines Tages geräumt wurden, kehrten die Besetzer am Hafen in die vermauerten Wohnungen immer wieder zurück und gaben sich als erfahrene Häuserkämpfer: „Es braucht schon ein paar Räumungen, um uns aus der Ruhe zu bringen.“ Als die CDU eine Anfrage an den Senat zu dessen „Hausbesetzer-Politik“ stellte, nahm das Thema Fahrt auf. Es sollte die Politik der Stadt über Jahre dominieren.
Ende 1982 holte die SPD bei Neuwahlen die absolute Mehrheit und brauchte auf die Hafenstraßen-freundliche GAL keine Rücksicht mehr zu nehmen. Der rechte Parteiflügel wollte nun räumen – und das möglichst bald. „Zu dieser Zeit war es fast wie Krieg. Es ging richtig ab. Da war immer die Angst vor der Räumung, es gab immer Druck“, erinnert sich Volker Ippig, damals Torwart des FC St. Pauli, der durch seine Zeit als Entwicklungshelfer in Nicaragua mit den Hafensträßlern in Kontakt kam und eine Weile unter ihnen lebte. Bei „Begehungen“ der Wohnungen sprühten Polizeibeamte Reizgas in Betten und Lebensmittel. Rechte Hooligan-Kommandos griffen die Häuser regelmäßig an, doch die Bewohner wehrten sich. Die Häuser waren um diese Zeit längst zu Festungen ausgebaut. Auf den Dächern lag Stacheldraht. Stahlträger in tief verankerten Betonfundamenten sollten die Räumpanzer der Polizei aufhalten.
Im November 1987 verschärfte sich die Lage noch einmal. 6.000 Polizisten standen für die Räumung bereit, während die Unterstützer der Hafenstraße Barrikaden bauten, um sie in Brand zu stecken. Im letzten Moment kam es zur Einigung: Bürgermeister von Dohnanyi bot den Bewohnern einen Pachtvertrag an, sollten sie die Barrikaden abbauen, und bürgte dafür mit seinem Amt. Die Hafenstraße lenkte ein. Der Konflikt mit Dohnanyis Nachfolger Henning Voscherau, der die Pachtverträge wieder kündigte, sollte sich noch bis 1994 hinziehen. Dann gab Voscherau auf: Für zwei Millionen Mark verkaufte die Stadt die Häuser an die Bewohner, die eine Genossenschaft gründeten. Claus Petersen trug die Entscheidung nach einer Bedenkzeit mit: „Die Kampfphase war sehr hart. Man musste auch mal zur Ruhe kommen.“
Als politisches Symbol hat die Hafenstraße längst ausgedient. Inzwischen lebt dort teilweise eine Generation, die den Häuserkampf nur noch aus Erzählungen kennt. Die meisten Hafensträßler sind nach wie vor politisch aktiv, etwa in der Recht-auf-Stadt-Bewegung, zu der auch Claus Petersen zählt. „Es sind ähnliche Konflikte wie vor 30 Jahren. Die Netzwerke, die seinerzeit geholfen haben, Freiräume zu verteidigen, funktionieren immer noch.“ Wenn Wohnungen leer stehen, werde das über einen Online-Leerstandsmelder bekannt. Auch sei Protest mittlerweile sehr viel spielerischer. Heutige Aktivisten würden die Tür der Saga vermutlich als Künstler-Kollektiv mit Steinen aus Styropor vermauern und das Video der Aktion anschließend ins Netz stellen.
Matthias Greulich ist Autor in Hamburg und schreibt erstmals für die Zeitgeschichte
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.