In der Gaststätte "Waidmannsruh" findet ein Klassentreffen von inzwischen mehr oder weniger gutsituierten Damen und Herren statt. Es führt die ehemaligen Schülerinnen und Schüler, vor allem aber die Ich-Erzählerin Marie zurück in die siebziger Jahre. Das Treffen berührt aber nicht nur diese Jugendjahre, es dreht "Zeit" überhaupt im Kreise, in einen Strudel. Und so trifft man nicht nur auf frühere Mitschüler, man begegnet auch Varianten seiner selbst.
Dorothea Dieckmann, Jahrgang 1957, Autorin und Literaturkritikerin, schreibt geschliffen, illusionslos und dabei engagiert; sie vertritt unorthodoxe Positionen, es sei hier nur an Bücher wie Unter Müttern. Eine Schmähschrift oder an Belice im Männerland erinnert. Im neuen Rom
erinnert. Im neuen Roman macht sich die Protagonistin Marie mit ziemlichen Zweifeln zu dem Klassentreffen auf, und ihre Frage ist die Frage des ganzen Romans: Vielfach verzwiebelt, geht es um Formen von Entstellung; und es geht darum, ob man Vergangenes, ob man Entwicklungen verstehen kann. "Antworten" sind nicht einfach zu haben, denn der Versuch, zu verstehen, ist verstellt durch die Selbstinszenierungen der Damen und Herren.Es ist formal konsequent und einleuchtend, dass Dorothea Dieckmann den Roman entsprechend aufgebaut hat, als gehe es um ein Bühnenstück: "Maske", "Auftritte", "Zwischen den Zeiten", "Abgänge", "Retusche" heißen die fünf Kapitel des Romans. Bis auf Erdmute, die sich noch als Schülerin umbrachte, sind fast alle inzwischen "etwas geworden", und das hat mit den früheren "Indianerträumen" kaum mehr zu tun. Diese heutigen Erwachsenen sind fast alle ziemlich gleichgültig, selbstironisch; sie wirken so oder so ermüdet, jedenfalls reiben sich nicht sonderlich an Gegend und Gegenwart; "anything goes". Marie selbst hütet sich, von ihrem "verschwiegenen Nebenjob" zu berichten, für den man sie teeren und federn würde. Aus mehreren kleinen Anspielungen lässt sich vermuten, dass sie eben nicht nur Lyrikerin ist und im Kulturbetrieb arbeitet, sondern dass sie vielleicht auch einmal eine Art Edelnutte war. Während ein Mitschüler ihr gesteht, wie gern er eine "kuschelige Affaire" hätte, wie mühsam und aufwändig so etwas aber doch auch sei, weiß sie: Wer für Sex bezahlt, macht kein schlechtes Geschäft, und ein Ehrliches obendrein. Sie hat ihr eigenes Klassifizierungssystem, unterscheidet zwischen Männern mit und ohne Zahlungsmoral, und die Schrecken der Warengesellschaft nimmt sie, das spricht aus ihren Reflexionen, durchaus nicht nur im Bereich der Prostitution wahr.Das Kapitel "Abgänge" - es ist spät geworden, die Versammlung löst sich langsam auf - führt dann in mehrfacher Hinsicht "abwärts". Marie, die als Schülerin in Richard verliebt war, weiß von Beginn des Abends an, es gibt noch etwas nachzuholen, Liebe oder Rache oder beides zugleich. Jetzt trifft sie sich mit Richard im Keller, vor den "Damen und Herren", vor dem Lokus. Eine bizarre Szene im Frauenklo folgt; schließlich wünscht sich Richard, dass Marie ihm einen bläst. Die Sprache, in der das geschildert wird, ist äußerst präzis, auf kühle Weise anmutig; sie hat einen leisen Witz, den man sehr selten findet - aber dann bleibt einem plötzlich das Lachen im Hals stecken. Obwohl die ganze Szene nur wenige Seiten in diesem umfangreichen Buch einnimmt, hat die Rezensentin deren grausiges Ende nicht verstanden.Wie weit geht denn Maries Bereitschaft, sich auf Richard einzulassen? Wie lang lässt sich denn ihre analytische Distanz halten, zumal wenn, während sie "unten" mit ihm beschäftigt ist, "oben" aus seinem Mund unvermittelt eine Rede fällt, die man nur als verbale Vergewaltigung bezeichnen kann? Geht es einmal mehr darum, zu zeigen, wie indifferent diese vierzigjährigen Damen und Herren sich in allen Lebenslagen verhalten? Wie auch immer, es soll hier ausdrücklich betont werden: Wer Dieckmanns Buch nun in erster Linie mit voyeuristischem Interesse liest, liest an dem Text vorbei. Wenn man dieser Arbeit einigermaßen gerecht werden will, muss man sich Zeit nehmen für die Widersprüche, für das Ungelöste. Unüberhörbar ist die Wahrnehmung, dass "Bewusstwerdung" ein schmerzhafter Prozess sein kann, der in die Verbitterung und (Selbst)Verachtung führt.Die Ich-Erzählerin beobachtet ihre Klassenkameraden über weite Strecken schonungslos, erst spät kommt etwas wie Erbarmen dazu; und diese Haltung macht sie selbst nicht unbedingt zu einer "Sympathiefigur", zumal Marie in ihrer selbstkritischen Fähigkeit eben über die anderen Figuren hinausgehoben wird. Als Ich-Erzählerin bleibt sie, wahrscheinlich ist das unvermeidbar, in allen Selbstzweifeln "Sieger"."Sympathiefiguren" also, oder gar "Identifikationsangebote" gibt es hier allenfalls für diejenigen Leser, die nicht davor zurückschrecken, in die Wüste hineinzusehen, die "ich" ja wohl auch ist. Wer war "ich" früher, wie ist es zum "jetzt" gekommen? Die Rezensentin ist sich nicht sicher, ob man Dorothea Dieckmanns Roman ausschließlich als Portrait einer Generation lesen muss. Es gibt zwar eine Fülle haarscharf gezeichneter Details, die auf die Jugend in den siebziger Jahren der heute um 40-Jährigen verweist, aber warum wird eigentlich die "Generation" in sämtlichen Feuilletons permanent zur letzten gültigen und verbindlichen Kategorie hochstilisiert? Als wären die 68er heute nicht ebenso konsumfreudig gewesen wie nachfolgende Generationen; als sei "Politisierung" in der Jugend die Errungenschaft einiger ausgewählter Jahrgänge; als gebe es nicht immer Verbindendes zwischen Einzelnen aus einzelnen Generationen.Auf Dieckmanns Roman bezogen heißt das: Wenn auch hier nach "Vergangenem", nach "Entwicklungen" gefragt wird, dann sitzt der Ich-Erzählerin noch etwas anderes, ganz Grundlegendes unter der Haut. "Integrität", Unbescholtenheit, Unverletztheit - gab es so etwas einmal? Kann es das in irgendeiner Lebensphase geben? Dorothea Dieckmann hütet sich, auch nur in die Nähe von Sentimentalität oder Emphase zu kommen; ihre Protagonistin bleibt fast durchgängig spröde und nüchtern, sie will sich kein X für ein U vormachen. Aber es gab den Moment, als die Schülerin Marie das Rad durch die schöne leere Fläche der Turnhalle schlug. Einmal war sie auch, zusammen mit Richard, ein "Doppelwesen", unterm Parka im Regen ein Rumpf auf vier Beinen. Wie "beiseite gesprochen" und unvermittelt auch der Satz, dass man vielleicht ganz gern für immer elfjährig geblieben wäre, rollschuhlaufend mit der Freundin.Marie und ihre Autorin tippen das nur an, an eine "Heimat" in der Kindheit glauben sie lieber nicht. Wenn es für sie eine Sicherheit gibt, dann die des distanzierten, analytischen Blicks. Er richtet sich wiederholt auf die männliche und weibliche Sozialisation: Die Mädchen lernen, jein zu sagen, die Jungen trainieren sich "weibliche" Eigenschaften ab. Bei dem Klassentreffen wird deutlich, egal, wie sehr sich jeder gepanzert hat, keiner ist unverletzt, unversehrt, integer geblieben. Vielleicht war man es nie. Integrität, das würde auch eine eigene unverstellte Sprechweise bedeuten, aber Marie bleibt skeptisch. Die Schulhofgespräche über Camus, der ihr doch beistand auf dem "Weg ins Exil", scheinen ihr im Nachhinein wenig glaubwürdig; "die Klugscheisserei war unsere intime Sprache." "Hätten wir auf andere Weise ausdrücken können, was uns bewegte?" Damen und Herren ist, abgesehen von einigen sprachlichen Ungenauigkeiten - man kann hier sowohl banale wie allzu bemühte Sätze finden - formal und inhaltlich ein wagemutiges Buch, über das man lang nachdenken kann und das sich auf vielen Ebenen diskutieren lässt.Zur gleichen Zeit hat Dorothea Dieckmann einen Essayband veröffentlicht, Sprachversagen heißt er. Ein anderes Genre, ein ganz anderer Grad von Abstraktion. Die Literaturen wie die FAZ urteilten in ihren Besprechungen sinngemäß, die beiden Bücher Dieckmanns verhielten sich wie "Theorie" und "Ausführung" zueinander. Wehe, wer sich theoretisch so weit aus dem Fenster hänge wie Dieckmann, ohne die eigenen Ansprüche dann einlösen zu können. Es ist sicherlich verführerisch, solche Rechnung aufzumachen. Nur, sie führt nicht weit, sie verkennt letztlich beide Arbeiten in ihrer Eigenart. Man konnte beim Lesen der beiden Kritiken den Eindruck gewinnen, die Autorin werde abgestraft dafür, dass sie als Essayistin die Meßlatte für Literatur sehr hoch hängt und dann noch wagt, gleichzeitig ihren Roman zu veröffentlichen, ohne selbst eine Ikone wie Ingeborg Bachmann oder Franz Kafka zu sein.Dieckmanns Essay Sprachversagen ist diszipliniert bei allem Furor; präzis aggressiv und dabei sensibel geht er der Frage nach, welche Berührungspunkte es zwischen Sprechen, Sprache und Schreiben gibt. Kann Sprache Integrität bewahren? Kann sie sie gewinnen? Und welche Art Sprache wäre das? Der Text zeigt, welchen Anteil die mündliche öffentliche (käufliche) Rede am "Sprachversagen" hat; etwa, wenn noch jede poetische Formulierung zum Designeraccessoire verkommen kann. In schönem Zorn plädiert Dieckmann für die Wiedereinführung des Begriffs der Trivialliteratur, sie beharrt aller zeitgeistigen Indifferenz, allem Antiintellektualismus der Intellektuellen zum Trotz darauf, dass Literatur, die diesen Namen verdient, sich doch auf einer anderen Ebene bewegt als etwa der neueste Roman aus der Reihe der "Fräuleinwunder", der mehr oder weniger einfach den Imperativen des Markts gehorcht.Dem literarischen Schreiben ginge es darum, zu bewahren, was das Reden verrät, es ginge um eine Abstinenz in der Sinngebung und darum, sich immer neu "ins Fremde" aufzumachen, oder, nach Sartre, "man spricht in seiner eigenen Sprache, doch man schreibt in einer fremden." Das literarische Schreiben, dem Dieckmanns Text nachgeht, wäre wohl auch nicht vom gelungenen, gar erfolgreichen, verkäuflichen "Endprodukt" her zu denken, es ist vielmehr ein unabschließbarer Prozess des Suchens.Es gibt in Sprachversagen ein paar Momente, in denen der Text, so brillant und entsprechend hart und geschliffen er ist, plötzlich aufbricht, sich öffnet. Er wird in aller Diskretion persönlich, denn es geht um die Schreibexistenz eines "Ich", das gleichzeitig völlig anonym und ganz subjektiv ist: "Wer schreibt, kennt die Scham - nicht nur als Korrekturmechanismus in der Arbeit, sondern als (armes, unheroisches) Bewusstsein vom eigenen Versagen am und im Leben."Scham? Armes Bewusstsein? Versagen am und im Leben? Man hört diverse Leitfiguren des Kulturbetriebs schon lachen, deren Schwierigkeiten sind das nicht.Die erbitternde, empörende oder niederdrückende Erfahrung von Versagen bei hohen Ansprüchen ist das, was beide Bücher verbindet, und vielleicht erklärt sich daraus der seltsame Ärger, mit dem teilweise auf Dieckmann reagiert wird; denn hier wird ja offensiv an Glücks- und Erfolgsgeboten gerüttelt.Dorothea Dieckmanns sprach- und kulturkritische Überlegungen sowie ihre Auslotung der Schreibexistenz stehen nicht im leeren Raum, sie sind nicht völlig neu, sofern sie sich an immer wieder totgesagten Begriffen und Werten der "klassischen" Avantgarde orientieren; man kann sie in so oder so verwandter Form etwa bei Jurek Becker (Warnung vor dem Schriftsteller) oder bei Anne Duden (Zungengewahrsam) finden. Trotzdem war die Lektüre von Dieckmanns Essays eine Freude für die Rezensentin: Der Text kann nur so harsch mit der Phrasenrede, mit der obszönen Zweifellosigkeit von Pseudoliteratur ins Gericht gehen, weil er ganz offensichtlich immer noch die Erinnerung an ein "Anderes" hat. Er weiß von der Schönheit und Integrität, die bei der Arbeit mit Sprache aufscheinen kann.Dorothea Dieckmann: Sprachversagen. Essay 46, Droschl-Verlag, Graz 2002, 96 S., 12 EURDorothea Dieckmann: Damen und Herren. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 320 S., 19 EUR
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