"Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden". Wusste Willy Brandt, was er sagte? In Wahrheit ist der Himmel gar nicht blau. Luftmoleküle sind nämlich farblos. Unbewusst sprach aus dem Kanzlerkandidaten des Jahres 1961 der Mythos. In denen des Fernen Ostens taucht der blaue Himmel als Gewand des Himmelsgottes auf. Brandts geradezu sprichwörtlich gewordener Satz aus dem Bundestagswahlkampf von 1961 symbolisiert ein verbreitetes Missverständnis über etwas scheinbar Selbstverständliches. Dass der Himmel oder die Luft manchmal blau und manchmal grau wirkt, hat auch nicht immer damit zu tun, dass viel oder wenig Dreck in sie geblasen wird. Die Impression des blauen Himmels entsteht, wenn Ozon das Sonnenlicht filtert. Dann wird aus dem Licht, dessen
Erkennst Du mich, Luft?
Biophiles Gasgemisch Warum auch die saubere Luft nicht mehr werden wird, was sie nie war: ein Element
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en Bestandteile bekanntlich weiß ergeben, gelb und rot absorbiert. Der Himmel wirkt dann im Zenit bei Sonnenuntergang blau. So gesehen bekäme man den Himmel mit mehr Ozon noch blauer. Was für den Menschen aber auch nicht gerade bekömmlich wäre. Von all diesen Zusammenhängen natürlich völlig unbeleckt verwandte Brandt blau und sauber als Synonyme. Wenn sich Politiker schon mal zur Ökologie äußern, kommt doch nur was heraus? Heiße Luft!Das metaphorische Sprechen über die Luft hat Tradition. "Luft" bezeichnete immer mehr ein mythisches als ein naturwissenschaftlich präzises Konzept. Seit der griechische Philosoph Empedokles 500 Jahre v. u. Z. in der "Vier-Einheit" der Elemente das Ganze der Natur fasste, geistert die Idee von dem einen, unteilbaren Lebensstoff durch das Denken der Menschen. Im Bild von dem "Lebenshauch", mit dem der Schöpfer in der Bibel den unbelebten Klumpen Lehm zum lebendigen Menschen beseelt, findet er seine stärkste Entsprechung. Doch eigentlich ist Luft kein "Element", eines wie Blei, Strontium oder Uran. Sondern ein mixtum compositum aus drei Stoffen: achtzig Prozent Stickstoff, zwanzig Prozent Sauerstoff, verfeinert mit einem winzigen Hauch Kohlendioxid (0,003 Prozent). Ein, wenn man so will, kosmisches Abfallprodukt, das vor mehr als vier Milliarden Jahren entstand, als auf die sich zu Planeten verdichtenden Staubnebel im All Meteoriten einschlugen.Ging man bis vor kurzem noch davon aus, dass die Luft aus der Photosynthese von Tieren und Pflanzen entstand, spricht für den Bonner Astrophysiker Hans Jörg Fahr mehr dafür, dass bei den Explosionen und der magmatischen Schmelze während dieser Frühphase der Kosmogenese ein Dampf aus Ammoniak, Kohlensäure und Methan freigesetzt wurde. Aus dem bildete sich dann über Jahrmillionen das heraus, was der exakte Wissenschaftler in unüberbietbarer Nüchternheit auf einer Konferenz der Bonner Bundeskunsthalle zum Thema "Luft" vergangenes Wochenende (vor leider kosmisch leeren Rängen) ein "biophiles Gasgemisch" nannte. Doch es sollte noch 2.100 Jahre dauern, bis das mythische Element naturwissenschaftlich entzaubert wurde. Seit nämlich der Magdeburger Physiker und Leibniz-Widersacher Otto Guericke das Vakuum nachweisen konnte, mithin also das Gegenteil von Luft, spricht man endgültig nur noch - Plural! - von Gasen.Doch so sehr diese Zäsur den Mythos Luft relativierte - stets war die metaphorische Kraft stärker: Luft ist die Kulisse, vor der sich Erfolg und Tragik der conditio humana vollziehen. Sie dient als Leinwand seiner Projektionen und Wünsche. Von Ikarus bis zum Luftkrieg des Zweiten Weltkrieges spielte darauf das Drama von Aufstieg und Fall der Gattung Mensch. Der Traum vom Fliegen, das Wagnis des Überschreitens, die Befreiung von der irdischen Schwere endete nämlich anders als vorgestellt. An der Geschichte der Ballonfahrt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so die Hamburger Physikerin und Historikerin Sabine Höhler, kann man eindrucksvoll belegen, wie die dritte Dimension erobert, unterworfen, umcodiert wurde. Der technisch-distanzierte Ballonfahrer ist ein Prototyp der Selbstinszenierung des männlichen Wissenschaftlers, der den imperialen Blick einübt. Mit der Förderung der "Ballonkultur", so Höhler, ebnete sich das wilhelminische Deutschland den Weg zu seinem "Platz an der Sonne". In der Literatur spiegelt sich der Wandel von der Folie des utopischen Horizonts zur Luke des apokalyptischen Fall-Outs. War die Luft in der deutschen Lyrik seit dem 18.Jahrhundert noch das Symbol für Stille, Reinheit und Innigkeit, wird sie heute eher als Bedrohung empfunden. Wer die Schadensbilanz der Luftverschmutzung und seine Auswirkungen auf das Klima Revue passieren lässt, wundert sich nicht, dass sich die ökologisch inspirierte Lyrik von heute, von denen der Bamberger Germanist Wulf Segebrecht ein paar Kostproben zum Besten gab, heute eher als Todesbotin sieht. Paul Celans Atemwende, von der er in seiner Büchner-Preis-Rede 1960 sprach, scheint uneinholbar eingetreten.Kein Wunder, dass diese Lebensbasis wieder positiv aktiviert werden soll. Die vierteilige Konferenzserie der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland zu den vier Elementen, die gar keine sind, die vergangenes Wochenende nach Kongressen zu "Wasser" (Freitag 45/1998), "Feuer" (Freitag 45/2000) und "Erde" (Freitag 45/2001) nun mit einem Kongress zum Thema "Luft" endete, ist ein weiterer, wenn auch viel zu wenig wahrgenommener Beleg für den Topos von der "Wiederkehr der Elemente". Die Verlusterfahrung der technisch-industriellen Zivilisation befördert die sprachliche Rückkehr zu der verlorengegangenen Ganzheit. Die Naturwissenschaften haben die Natur zwar nicht komplett abstrahieren können. Zumindest aber ist sie aus dem menschlichen Gesichtsfeld verschwunden. Das Feuer ist in die Zentralheizung verbannt, die Luft von der Klimaanlage geschluckt, das Wasser ist im Flussdiagramm verschwunden, die Erde zur Komponentengleichung geronnen. Selbst wenn sie unvorhergesehen ausbrechen, wird das Gemachte der "Natur"-Katastrophe sichtbar. Wie weit der Paradigmenwechsel im Naturverständnis der kritischen Wissenschaft heute geht, kann man an der Frage erkennen, die der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme auf der Bonner Konferenz stellte: "Muss man nicht die Luft als Partner beim Atmen sehen, mit dem man sein eigenes Natursein erfahren kann, in der Abhängigkeit von etwas, was gegeben sein muss?" Mit dieser Bestimmung wird Luft wieder zum kulturellen Konstrukt, ja zur philosophischen Notwendigkeit. Rainer Maria Rilke kleidete das Bild von der Buberschen Selbsterkenntnis im wechselseitigen Dialog in seinen Sonetten an Orpheus in den Satz: "Atme du unsichtbares Gesicht. Erkennst Du mich, Luft?"Böhmes "Partner" ist vielleicht eine problematische Formulierung. Die Luft als Medium einer neuen, sinnlich-leiblichen Lebenserfahrung ließe man sich schon eher gefallen. Sie ist aber ungleich schwieriger zu bewerkstelligen als bei den anderen "Elementen". Die neuere Architektur integriert zwar wieder stärker Wasser in ihre Entwürfe. Auch wenn es oft nur zum symbolischen Dekor reicht, wie bei dem künstlichen Teich am Potsdamer Platz in Berlin. Analog zu den öffentlichen Brunnen fand auf der "Feuer"-Konferenz der Bundeskunsthalle der Vorschlag Resonanz, Feuersäulen in den Innenstädten aufzustellen. Für die Luft fehlen vergleichbare interessante Konzepte. Die Luftwände, mit denen der Architekt Werner Ruhnau Ende der fünfziger Jahre seinen Neubau des Gelsenkirchener Theaters zum öffentlichen Raum hin öffnen wollte, fanden keine Gnade vor den Augen der irritierten Stadtväter. Davon übrig geblieben sind nur die Luftschleusen der großen Kaufhäuser. Mit ihrem Projekt "Hydrogenia floating paradise" knüpfen ein paar junge Studenten aus Wien an die fliegenden Städte aus der konstruktiven Frühzeit der russischen Revolution an. Die schwebende Landschaft aus wasserstoffgefüllten Ballons ist drei Kilometer lang und 300 Meter hoch. Sie soll die Erde in 11.000 Metern Höhe auf den ewigen "Jetstreams" der globalen Winde umkreisen. Mit ihren spektakulären Ausblicken auf den vorbeiziehenden Planeten könnten sie tatsächlich völlig neue Raumzeiterlebnisse bieten. Der ortsfeste Baukörper ist passé. Aber mit der Luft selbst kämen die Paradiesbewohner nicht in Berührung.Die äußerst scharfen Winde allerdings, die heute auf der Erde unten durch die Hochhausschluchten in den Mega-Cities fegen, oder die immer häufigeren Stürme im Gefolge der Klimakatastrophe wird nur der Zyniker als gelungenen Beitrag zur luftgestützten Elementarerfahrung bezeichnen wollen. Und Bahnreisenden wird man sicher auch nicht empfehlen, sich bei einer Geschwindigkeit von über 250 Stundenkilometern aus dem Fenster zu lehnen, wie es der Landschaftsmaler William Turner im England des 19. Jahrhunderts noch bei achtzig Stundenkilometern tun konnte, um den "unvorstellbar großen Luftwiderstand" zu spüren. Will man die sinnliche Erfahrung mit den Dingen und Stoffen der natürlichen "Mitwelt" fördern, wäre eher Schillers alte ästhetische Erziehung durch ein neues Kapitel zu ergänzen, in dem es um Atemtechnik und Sprecherziehung schon an den Schulen geht. Das Interesse daran ist immens, wie der Run auf die fernöstlichen Meditationstechniken wie Yoga oder Tai-Chi samt ihren kruden Aufgüssen in der westlichen Esoterik zeigt. Ich atme, also bin ich! Und der Grazer Physiologe Maximilian Moser erinnerte daran, dass das Rezitieren von Hexametern ein harmonisches Muster in die Rhythmen unseres Herzschlags "ziseliert", das dem stressgeplagten Menschen von heute helfen könne, dem drohenden Herzinfarkt mit Hilfe der Kunst zu entgehen. Damit kommt eine alte Idee neu auf die Tagesordnung der Kultur-Ökologie. Schließlich wollte schon Werner Ruhnau vor fünfzig Jahren "Tempel der Elemente" mit Wasserbrücken, Feuerwänden und Luftdüsen bauen, die als "Schule der Sensibilitäten" dienen sollten.Am ehesten wäre die "Versinnlichung" der Luft also noch der Bildenden Kunst zuzutrauen. Sie vermag das unsichtbare Element am besten sichtbar zu machen. William Turners Landschaftsbilder gehören ebenso dazu wie die Wolkenbilder seines Kollegen William Constable oder die Sequenzfotografien, mit denen der deutsche Künstler Otto Piene die strömende Luft mit den Aufnahmen von Zigarettenrauch festhielt. Ein unübersehbares Zeichen der Präsenz des allgegenwärtigen Stoffs gelang dem bulgarisch-amerikanischen Künstler Christo, als er für die Dokumenta 1968 auf den Rasen vor der Orangerie in Kassel seine Installation "5.600 Cubicmeter Package" aufpflanzte, einen über hundert Meter hohen Riesenphallus. Heutzutage arbeitet die Kunst mehr wie der freie Berliner Geräuschemacher Werner Schreiner. In seiner Installation Airbag versetzt die Musik aus einer HiFi-Anlage die Luft so in Schwingungen, dass sich die Plastiktüten, die an Plexiglaskegeln hängen, von selbst aufblasen.Um die lebenserhaltenden, sinnlichen Qualitäten der Luft wieder zu erobern, kann natürlich auch die Kunst der Luftreinhaltung nicht schaden. Doch dass die Renaissance des Naturbewusstseins eines Tages dazu führen könnte, dass wir je wieder "im Durchzug der Elemente" leben werden, wie es einst Paracelsus vorschwebte, ist unwahrscheinlich. Für den Philosophen und Mediziner war der Mensch nur das Medium, das Gefäß sozusagen, in dem sich die Elemente ausagierten, ähnlich wie der französische Nihilist Cioran die menschliche Langeweile nur als einen unbewussten Reflex des kosmischen Zuckens sehen wollte. Doch auch die moderne Ökologie wird die Natur vor der Anschauung, Messung und Ausbeutung durch den Menschen zum Glück nicht wieder zurück bringen. "Öko-Effizienz - Die Job-Maschine von morgen" kann man zu Beginn des Öko-Kapitels im neuen Koalitionsvertrag von Rot-Grün in Berlin lesen. Das technizistisch-ökonomisch verkürzte Verständnis von Natur und Ökologie klingt selbst bei dem Herzstück des gesellschaftsverändernden Projektes, das die inzwischen mit allerlei Schwermetallen belastete Metapher einst bezeichnete, wieder durch. Immerhin will die Bundesregierung die Luftbelastung durch Dieselruß und Stickoxide deutlich verringern. Doch auch gereinigte Luft ist kulturell bearbeitete Luft. Also selbst, wenn die rot-grüne Koalition wahr macht, was sie im Koalitionsvertrag und auf den Neu-Delhi-Konferenz versprochen hat, bleibt "die Luft", was sie immer war: Kultur.Zum Weiterlesen: Gernot Böhme/Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. Verlag C.H.Beck., München 1996, 344 S., 39, 90 EURWeitere Informationen: www.bundeskunsthalle.de
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