Erklärung des Willy-Brandt-Kreises zum künftigen Umgang mit den Stasi-Akten

Dokumentation Mit Interesse verfolgt der Willy-Brandt-Kreis die veränderte Zuständigkeit für die Stasi-Unterlagenbehörde. Denn wir waren immer dafür, mit der ...

Mit Interesse verfolgt der Willy-Brandt-Kreis die veränderte Zuständigkeit für die Stasi-Unterlagenbehörde. Denn wir waren immer dafür, mit der einmaligen Chance, den umfangreichen Aktenbestand eines repressiven Geheimdienstes öffentlich zu machen, sensibel umzugehen. Pressehinweise, wonach künftig Hauptaufgabe der Behörde die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sein wird, erfüllen uns allerdings mit Sorge, da die Behörde mit ihrer bisherigen Arbeit bewiesen hat, dass sie für diese Aufgabe ungeeignet ist.

Die Behörde war von Anfang an nicht als neutrale wissenschaftliche Einrichtung angelegt, sondern hatte eine politische Zweckbestimmung. Wie der damals zuständige Ministerialdirigent im Bundesinnenministerium erklärte, hatte der Sonderbeauftragte den Sonderauftrag, die DDR zu delegitimieren. Gleichzeitig waren alle geheimdienstlichen Erkenntnisse über die Bundesrepublik streng geheim, sie stehen der kritischen Aufarbeitung nicht zur Verfügung. Damit begann eine auf ostdeutsche Repressionsgeschichte eingeengte, selektive Geschichtsschreibung, die nicht nur Alltagsgeschichte ausblendete, sondern auch Forschungsvorhaben, die nicht die gewünschte Delegitimierung erbrachten, unter den Tisch fallen ließen. (So wird beispielsweise bis heute die Zahl der tatsächlich bespitzelten DDR-Bürger, die Opfer einer "operativen Personenkontrolle" wurden, geheim gehalten, weil mit ihr vermutlich das Bild von den flächendeckend kontrollierten Bürgern nicht aufrecht zu halten wäre.)

Emanzipatorische Elemente, wie die Brechung des Bildungsprivilegs in der DDR oder das Selbstbewusstsein von Produktionsarbeitern, wurden genauso ausgeblendet wie Aspekte der bundesdeutschen Repressionsgeschichte. Mit ihrer Reproduktion von staatlich beaufsichtigter Geschichtswissenschaft hat die Behörde von Anfang an auch zu Fehlurteilen und Legendenbildungen beigetragen.

Wenn heute in Westdeutschland und im Ausland das Bild der DDR als das eines reinen Unrechtsstaates vorherrscht, in dem alle Bürger entweder bei der Stasi gearbeitet haben oder von ihr beobachtet wurden, bei jeder missliebigen politischen Äußerung im Gefängnis landeten und nur unter Lebensgefahr das Land verlassen konnten, so hat die Behörde ihren Auftrag erfüllt. Wer weiß schon, dass in den Jahren der Mauer nach Angaben des Bundesinnenministeriums - größtenteils unter schikanösen Bedingungen - 429 815 Ausreiseanträge genehmigt wurden, die 33 775 herausgekauften Häftlinge nicht mitgerechnet.

Immer wieder hat die Behörde "Personen der Zeitgeschichte" demontiert, die sich dem herrschenden Zeitgeist nicht gebeugt haben, während einstige IM, die sich jetzt opportun äußern, in Ruhe gelassen wurden. Dieser von der Behörde ausgeübte politische Anpassungsdruck lag nicht im Interesse von Demokratie. Laut Auskunft von Joachim Gauck haben 98 Prozent der DDR-Bürger nie für die Staatssicherheit gearbeitet. Dennoch haben nur 2,6 Prozent derselben Bevölkerung volles Vertrauen zu der Behörde, die absolute Mehrheit hat überhaupt kein, sehr wenig oder etwas Vertrauen, wie das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg ermittelt hat.

Die Behauptung der Behörde, "der Geheimdienst hatte jeden Aspekt des Lebens durchdrungen", geht an der Erinnerung der meisten Menschen vorbei, erzeugt Überdruss, Abwehr und Trotz. So förderte die Behörde durch ihre ideologische Übertreibung gerade das, was sie vermeiden sollte, nämlich DDR-Nostalgie.

Akten eines Geheimdienstes sind jeweils interpretationsbedürftig und können nur eine Quelle unter anderen sein, zumal nach eigenem Bekunden der Stasi wichtige Unterlagen vernichtet worden sind. Sie enthalten niemals alle Daten über eine Gesellschaft. Nur wenn sie ergänzt werden durch Erkenntnisse aus den Archiven des Partei- und Staatsapparates, der Kirchen, Akademien, Verbände und Medien, der Eingaben und Leserbriefe, durch Befragungen von Augenzeugen und Forschungen über die Alltagsgeschichte, kann ein annähernd realistisches Bild entstehen.

Wir brauchen eine differenzierte Aufarbeitung von Geschichte, die auch die westdeutsche Parallelgeschichte nicht ausblenden darf, weil sich nur in der Gesamtsicht Aktionen und Reaktionen erklären lassen. Wir befürworten die zukünftige Überführung des Aktenbestanden unter die Obhut des Bundesarchivs, das eine hohe Gewähr für einen sachgemäßen Umgang mit diesen Unterlagen bietet. Es ist selbstverständlich, dass ein geregelter Zugang für Betroffene und Historiker weiterhin möglich sein muss.


Berlin, den 17. Februar 2005


Egon Bahr, Peter Bender, Peter Brandt, Daniela Dahn, Friedrich Dieckmann, Hans J. Gießmann, Günter Grass, Ingomar Hauchler, Christine Hohmann-Dennhardt, Hans Misselwitz, Irina Mohr, Oskar Negt, Claus Noé, Edelbert Richter, Michael Schaaf, Axel Schmidt-Gödelitz, Friedrich Schorlemmer, Manfred Uschner

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