Erotischer Leichtsinn

Sachlich richtig Professor Erhard Schütz fühlt sich recht wohl in der Gartenlaube und winkt den Herren Fontane, Keller und Bierbaum
Ausgabe 06/2019
Gottfried Keller (1819-1890)
Gottfried Keller (1819-1890)

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Sie war für Generationen der Inbegriff heimeliger Unterhaltung, der Prototyp einer Familienzeitschrift und wurde ebenso steiflippig als Biederleutssedierung verachtet: Die Gartenlaube. Zu Hochzeiten zwischen 1853 und 1944 erreichte sie an die zwei Millionen Leser, war für Bürgertum, Landbevölkerung, selbst für die Arbeiterschaft Referenzlektüre schlechthin. Die Redaktion hatte sich „Volksbildung“ ins Programm geschrieben. Und die, zeigt Claudia Stockinger, funktionierte durch raffinierte Leserbindung.

Auf geradezu detektivische Weise zeichnet die Literaturwissenschaftlerin nach, wie durch Fortsetzungen mit Cliffhangern, Textverbünden aus Prosa und Lyrik zwischen Fontane und Marlitt, Leseransprachen, Leserbriefbeantwortung, selbst Anzeigen Themen flankiert, gesetzt und vorangetrieben wurden. Dabei mitnichten weltfremd, sondern geradezu nationbuilding. Es ist selbst von Raffinesse, wie Stockinger die Wege verfolgt. Gerade mit Dorfgeschichten führte man das Publikum auf den Weg einer Moderatmodernität, mit naturwissenschaftlichen Popularisierungen, vor allem des Darwinismus, zu einer„tröstlichen Wissenschaft“, bei der Gegenwart ständig mit Vergangenheit und Zukunft verwoben wurde.

Als Otto Julius Bierbaum 1910 im Alter von 45 Jahren starb, hat ein gewisser Paul Kunad ihm nachgerufen: „Für uns hatte der Mann, dem des Künstlers edelste Eigenschaft, der sittliche Ernst gebrach, keine Bedeutung.“ Andere Zeitgenossen sahen das freilich anders, etwa Thomas Mann, Paul Scheerbart, Hermann Bahr. Allerdings war er ein Tausendsassa, ein chamäleonhaftes Multitalent. In seinem für mich pfiffigsten und immer noch lesenswerten Roman Stilpe von 1897 geht es dem – nicht gänzlich ohne autobiografische Anklänge entworfenen – Helden so: „Er kam an einem antisemitisch-konservativen Blatte an und schrieb nun das boshafteste Zeug, was sich nur denken läßt, gegen die ‚koschere Literatur‘. Er hat geradezu den antisemitischen Knüppelstil erfunden. Und auf einmal, wie mit einem Krach, saß er auf der anderen Seite und drosch auf die Antisemiten los, daß es nur so knackte.“

Ganz so versatil freilich war der Autor nicht, doch war er der seinerzeit neben Detlev von Liliencron beliebteste Lyriker, war Kabarettist, Übersetzer des Pinocchio, gefragter Essayist, Autor von Liedern, welche Richard Strauss vertonte, schließlich veritabler Romancier. Da ist es höchst löblich, dass ein Sammelband an die vielen Facetten einer genuin modernen Autorfigur erinnert.

Das beeindruckende Haus der schweizerdeutschen Literatur gründet auf einem soliden, ebenso unzerstörbarem wie weitverzweigtem Keller. Und damit Kalauerstopp. Dafür hin zu einem Touristenführer durch Tugenden und Laster der Leute von Seldwyla, jenem Novellen-Ort, der, wenn die Schweiz ein „kleines Ganzes“ war, das großartige Kleinganze dieses Kleinganzelandes war und wohl noch immer ist. Alexander Honold stammt aus Chile, ist in Berlin wissenschaftlich sozialisiert worden und Ordinarius in Basel. Er bringt also die besten Voraussetzungen mit, diese kleine Welt an die große anzuschließen. Vor allem, da hier – was nicht mehr selbstverständlich scheint – die Texte selbst Vorrang vor den durchaus präsenten Kontexten haben.

Man kann das lesen als ein Vademecum durch Versprechen und Enttäuschungen, Schein und Sein des bürgerlichen Erwerbslebens. Die Seldwyler Novellenwelt changiert zwischen der Rolle von Geld und Liebe, Familie und Einsamkeit, dem, was neudeutsch Selffashioning heißt. Alles, altertümlich kostümiert zwar, aber wie von heute. Zugleich liefert der Band eine subtile Anatomie der Novelle, des „Haustiers“ der Literatur des 19. Jahrhunderts – und nicht zuletzt deren traditionelle Spezialität des „erotischen Leichtsinns“. Wo fände sich damals eine frivolere Stelle als im anzüglichen Törtchenschlecken der schlaffen Schönheit, dem Treppen-Auf und -Ab, in dem das Auf und Ab beim Ehebruchsvollzug sich spiegelt.

Da das Fontane-Jahr, das strikt genommen erst mit dem 30. Dezember beginnen dürfte, schon seit etwa zwei Jahren einschlägige Devotionalien, Feierlichkeiten und Bücher vorauswirft, und auch der Freitag (2019/3) bereits im Lexikon „Fontanes Facetten“ eine erste Würdigung lieferte, werfen wir hier auch ein Buch nachdrücklich auf den Tisch, in dem Fontanes Gesellschaftsromane einer nach dem anderen von namhaften Literaturwissenschaftenden (Hannoversch gesprochen) durchmustert werden, auf Herausforderungen des Realismus hin.

Wer also nicht sich mit Smalltalk-Wissen über Fontanes Sommerfrischen und uneheliche Kinder, seine Fake News aus England, die allfällig markig nachgewanderten Wanderungen oder die Fron seines Apothekerberufs begnügen, sondern sich mit gründlichen Kenntnissen des Werks wappnen will, kommt an diesem Band nicht vorbei.

Info

An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt Die Gartenlaube. Claudia Stockinger Wallstein-Verlag 2018, 29 €

Otto Julius Bierbaum. Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne. Björn Weyand, Bernd Zegowitz (Hg.), Quintus 2018, 48 €

Die Tugenden und die Laster. Gottfried Kellers Leute von Seldwyla. Alexander Honold Schwabe Verlag 2018, 38 €

Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane. Peter Uwe Hohendahl, Ulrike Vedder (Hg.), Rombach 2018, 56 €

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