Oft beginnen Reisen mit Büchern. Manchmal ersetzen Bücher Reisen. Sie können Eindrücke vermitteln, die uns beim bloßen Durchstreifen einer Gegend verwehrt bleiben. Wir können uns allerlei Anstrengungen unterziehen, Berge erwandern, abgelegene Dörfer erforschen, die kein Fremdenführer anpreist und bleiben doch auf der Oberfläche der Dinge. Es kann sein, dass ein Reisender an die Adria möchte, dass er den Weg über die Tauern nimmt, über Villach, über die österreichisch-italienische Grenze bei Tarvis. Es kann weiterhin sein, dass er Zeit hat und nicht über die schnelle Autostrada seinen Weg in den Süden nimmt, sondern die alte Staatsstraße über die Dörfer durchs Kanaltal tuckert, keine reizvolle Rou
olle Route, von alpiner Eigenart sind die Seitentäler. Ins Haupttal wurde jedenfalls sehr viel Beton für Straßen- und Bahntrassen hineingeschüttet, die Touristen sollen hier möglichst rasch weiter in den sonnigen Süden kommen. Dem Reisenden mag seine Idee bereits Leid tun, denn der Talkessel bietet gar keine touristische Attraktion, also kehrt er zu einem Capuccino ein. Frau Preschern reicht selbigen dem Gast in ihrer Bar in Ugovizza/Uggowitz/Ukve, während sie mit einem andern Gast auf Windisch (eine Art Slowenisch) weiterplaudert, den nächsten auf Gailtalerisch (ein schwer verständlicher Kärntner Dialekt) anspricht und schließlich zum dritten ins Friulanische switcht. Die Sizilianer aus der Kaserne kommen erst am Abend, die Holzfäller aus dem Resia-Tal auch (sie sprechen Resianisch, eine eigene slawische Sprache), Frau Preschern spricht mit allen in der jeweiligen Sprache, das sind immerhin fünf hier. Denn der Reisende befindet sich im Kanaltal im Überlappungsraum dreier großer Kulturen, der germanischen, der romanischen und der slawischen, und die Mischkulanzen sind trotz Vereinheitlichungsversuchen der Politik vielfältig. Kurt F. Strasser und Harald Waitzbauer haben in ihrem Wander- und Forschungsbuch Über die Grenzen nach Triest die Geschichte dieses komplizierten Raumes aufgezeigt, insbesondere auch, wie sich die große Geschichte auf kleine Orte auswirkt, wie die große Politik den Alltag der Menschen umpflügt, wenn "nationale Interessen" neue Grenzen ziehen. Und Grenzen wurden hier in jedem Jahrhundert neue gezogen. In diesem Wortgrenzland ist Michele Obit angesiedelt, er lebt in Cividale del Friuli/Cedad, vor dem Hügelland östlich von Udine. Er verfasst Cantautortexte in slowenisch-venetischem Dialekt, hat bisher zwei Gedichtbände herausgebracht, schreibt auf Slowenisch und Italienisch ("So bin ich Michele und Miha..."), übersetzt neue slowenische Poesie ins Italienische und wurde unlängst ins Deutsche übersetzt: Epifania del profondo - Epiphanie der Tiefe. Einige seiner Gedichte kann man sich italienisch auf der Zunge zergehen lassen: "Un bel dire la frontiera quando nessuno ti ferma... - Schön zu reden von Grenze wenn niemand dich anhält...". Obits Sprache ist eine zwischen Einhalten und Weitergehen, sie bewegt sich mit großer Präzision im Dazwischen, im Ungefähren. Er ist kein Mahner, kein Moralist, er pflegt Dinge, die im lauten Weltengetöse leicht übersehen werden. Ein Gedicht erinnert an einen verschwundenen Weiler, an ein slowenisches Wort für das Summen von Bienen, an eine Stimmung: Es war nicht der Abend der / uns Ruhe brachte. / Es war der bittere Geruch / eines abwesenden Lebens. Von der Grenze geprägt wurde auch der 1999 verstorbene Fulvio Tomizza, geboren und aufgewachsen in Materada in Istrien, danach umgesiedelt nach Triest. Noch sein letzter Roman, Franziska, 1997 in Italien erschienen, wühlt sich tief in die Schattenseiten der "unerlösten Stadt", wie er Triest nennt, rollt ihre slowenische Geschichte auf und umkreist sie vom Karst, von ihrem bäuerlichen Hinterland her. Dort wird am 1. Januar 1900 in S?tanjel/San Daniele Franziska Skripac geboren, ein "Jahrhundertskind", für das der Kaiser Pate steht mit tausend Kronen. Die Tochter eines Tischlers hat das Glück, eine etwas bessere Ausbildung bei einer Landadeligen zu erhalten. Nach Ende des Krieges zerfällt das Habsburgerreich, der Landstrich fällt an Italien, Franziska findet Arbeit in Triest bei der Bahn und verliebt sich in Nino Ferrari, einen italienischen Offizier. Sehr kompliziert: Die junge Frau hebt sich auf für die große Liebe zu diesem Mann aus guter Fabrikantenfamilie, allerdings etwas weltenflüchtig, idealistisch, auch feige, der die Sehnsucht über die Liebe stellt. Es gibt keine Erfüllung, stattdessen Ausschnitte aus der Geschichte der Triestiner Region. Denn die zweite Ebene des Buches ist die der Chronik: Der Leser erfährt über die Verhärtung der nationalen Konflikte in Triest, die Brandschatzung des slowenischen Kulturhauses, über den Vormarsch der Faschisten, schließlich über den slowenischen Widerstand im Karst. Franziska ist ein wacher Mensch, der bei allen Zuspitzungen dieser Zeit nicht verhärtet und über die Grenzen hinweg offen bleibt. Der Slowene Boris Pahor, Jahrgang 1913, der erst italienische Literatur studiert hat, mit Dante und Manzoni groß geworden ist, bevor er Pres?eren und Cankar gelesen hat, schreibt über seine italienische Jugend, Kriegsdienst und Deportation, Harzungen, Natzweiler/Struthof, Bergen-Belsen, Dachau. Seine Erzählung Nekropolis betrachtet er als "eine Form von Therapie". Er ist einer, der in der Hölle war und der aus der Hölle wieder zurückkehrte. Später besucht er die Stätten, wo die Nazis diese Höllen errichtet hatten; der sommerliche Rundgang über das von Touristen besuchte KZ-Gelände führt ihn ins Gelände seiner Gedanken und seiner Erinnerungen. Das Buch ist vielfach rezensiert worden, Boris Pahor wird oft in einer Reihe mit Primo Levi, Jorge Semprun und Imre Kertész genannt. Pahor teilt mit, was nicht mitgeteilt werden kann, er thematisiert das Unmögliche. Nun ist es keine "Erzählung" im Sinne einer narrativen Abfolge, denn das Todeslager ist, was es ist, die totale Negierung des Menschen, der nur noch Material in einem Vernichtungsprozess ist. Aber auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit unternimmt Pahor eine Anstrengung, in diesem gigantischen Todesprozess noch etwas anderes auszumachen: Lebenskraft. Menschlichkeit. Sonst hätte es keinen Sinn, das alles aufzuschreiben. Nach 269 schweren Seiten heißt es im Nachwort: "Primo Levis Frage: Ist das ein Mensch? erhält durch Boris Pahor als Antwort ein brüderliches Ja." Schnitt: Nach Pahor etwas völlig Anderes lesen. Peter Waterhouse, Dichter, treibt sich oft in dieser Gegend zwischen Alpen und Adria herum, hat sich auch schon verdient gemacht um Übersetzungen von Lyrikern aus diesem Raum, unter anderem des Gradeser Dichters Biagio Marin. Er durchwandert mit wortkargen Gedichten das Jauntal in Kärnten, "Friuli Fiuli" und Slowenien, von Maghera und Venedig ist die Rede, dem Mediterran wendet er sich zu, Nordafrika, Indien, Marco Polo zu Lande, zu Wasser: Prosperos Land mit maximal neun Zeilen pro Seite, wo irdische Grenzen nichts bedeuten, weil man sich den Himmel "unterm Kinn / zum Doppelknoten gebunden" hat, ein Land voller "Wälder / bevor / Wörter sind"; ein Ort wie "Tolmezzo / ist auf / Zeit gebaut", obwohl "Das Licht träumt und / neben dem Weg / ist die Osterrose und Osteria". Manchmal verläuft zwischen Traum und Veränderung die Zeit auch rückwärts: "Die Schlacht im Friaul / erscheint vergeht / erscheint endet beginnt". Manches klingt leicht, manches auch zu leicht, manches öffnet sich dem Leser kaum; letztlich liegt es an ihm, ob er sich mit den dargereichten Fragmenten eine eigene Landkarte fügt - Raum für Abgründe bleibt genug. Drago Jancar, wohl der auffälligste slowenische Autor, ist einer der literarischen Kartografen zwischen Ljubljana und Triest, Oaxaca und Ottensheim, dessen fantastische Inszenierungen in den Steinbrüchen der Wirklichkeit den Wahnsinn der (Zeit-)Geschichte transparent machen. Reale Personen oder Ereignisse bilden den Ausgangspunkt seiner Erzählungen, die bald ins Absurde, Abgründige, oft genug ins Tragische kippen. "Professor Zeus" nennt ein slowenischer Jurastudent seinen namensähnlichen Lehrer in Triest, dessen Beschreibungslust ihn fasziniert, der ihn mit der Philosophie vertraut macht und ihm Englisch beibringt. Vier Jahre nach der letzten Begegnung mit Joyce wird er Augenzeuge der Brandschatzung des slowenischen Kulturhauses, die Pahor als Kind erlebt, und die Tomizza in seiner Franziska beschreibt: Der Faschismus erhebt sein Haupt. Während des Zweiten Weltkrieges wird seine Stimme in Slowenien berühmt, sie ruft in Radio London zum Widerstand auf. Nach dem Krieg kehrt er zurück, wird Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Ljubljana und zwei Jahre später eingesperrt, in einem stalinistischen Prozess zum Tode verurteilt, zu 20 Jahren begnadigt, nach vier Jahren wegen zerrütteter Gesundheit freigelassen und vom Pöbel gelyncht. Jancar benötigt keine 700 Seiten für diese Odyssee zwischen Triest, London und Ljubljana, zwischen Monarchien, Diktaturen und der Befreiung der Arbeiterklasse. Karge 17 Seiten dauert diese Geschichte, die zwischendurch Beschreibungslust aufblitzen lässt, die auch in anderen Erzählungen reichlich dargeboten wird, etwa in den Untergeschichten der Titelstory Die Erscheinung von Rovenska. Oder in der Legende Avestina, der rätselhaften Figur eines Wortschmugglers gewidmet, wo das "messerscharfe" Beschreiben ins pure Dichten übergeht. "Das Bild ist die Kindheit der Wörter." Ein Denk-Mal an Literatur und zugleich keines, der Luft, dem Wind setzt niemand einen Stein, das Entgrenzte ist sich selbst genug.Kurt F. Strasser, Harald Waitzbauer: Über die Grenzen nach Triest. Wanderungen zwischen Karnischen Alpen und Adriatischem Meer. Böhlau Verlag, Wien - Köln - Weimar 1999, 289 S., 29,90 EURMichele Obit: Epifania del profondo - Epiphanie der Tiefe. Gedichte. Aus dem Italienischen von Ilse Pollack. Mit einem Nachwort von Ludwig Hartinger. Edition Thanhäuser, Ottensheim a.d. Donau 2001, o.S., 50,- E URFulvio Tomizza: Franziska. Roman. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001, 226 S., 17,90 E URBoris Pahor: Nekropolis. Aus dem Slowenischen von Mirella Urdih-Merkù. Berlin Verlag, Berlin 2001, 280 S., 18,- E UR Peter Waterhouse: Prosperos Land. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2001, 204 S., 19,90 E URDrago Jancar: Die Erscheinung von Rovenska. Erzählungen. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag, Wien, Bozen 2001, 194 S., 18,- E UR
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