Erschütternd aktuell

Medientagebuch 451 Refugees sind seit 1993 in Deutschland umgekommen. Zahlen wie diese macht der Report "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" publik
Ausgabe 20/2015
Deutsche Gastfreundlichkeit: Container-Siedlung zur Unterbringung von Flüchtlingen
Deutsche Gastfreundlichkeit: Container-Siedlung zur Unterbringung von Flüchtlingen

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Dass Tausende Flüchtende im Mittelmeer sterben, schockiert uns immer wieder. Weniger Schlagzeilen machen die mindestens 451 Refugees, die seit 1993 in Deutschland den Tod gefunden haben. Dass diese Zahlen überhaupt bekannt werden, ist Ehrenamtlichen zu verdanken, die sich in der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) engagieren. Seit 1993 geben sie den Report Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen heraus, der die verschiedenen Formen von Gewalt, Verletzungen und Diskriminierungen gegen Flüchtlinge recherchiert und auflistet. Alljährlich wird er aktualisiert, gerade ist eine neue Auflage erschienen, die alle Fälle bis zum Jahresende 2014 erfasst.

Die Schicksale, die dort chronologisch aufgelistet sind, schaffen es meist nur als kleine Meldung auf die hinteren Seiten der Zeitungen. Da übergießt sich am 20. Februar 2014 der Iraner Kahve Pouryazdani mit Benzin und stirbt den Feuertod. Am 11. März vergangenen Jahres versucht sich eine 39-jährige Abschiebegefangene zu vergiften, am 7. September eine Nigerianerin mit ihren beiden Kindern. Elke Schmidt, die seit Jahren die Dokumentation koordiniert, führt die Suizide auf die wachsende Verzweiflung angesichts der schlechten Lebensbedingungen zurück, denen Flüchtlinge, Asylbewerber und Menschen ohne Papiere in Deutschland ausgesetzt sind. Das Problem, sagt Elke Schmidt, seien nicht nur die restriktiven Rahmenbedingungen, die durch die bundesdeutschen Asylgesetze vorgegeben werden: „Es sind auch die Mitarbeiter der Ämter, der Polizei und der Abschiebegefängnisse, die oft mit Allmachtsgebaren, Willkür, Schikanen, Rechtsbruch und purer Gewalt gegen die Schutzsuchenden vorgehen.“

Für die Erstellung der Dokumentation wertet die Gruppe Presseartikel, Polizeiberichte und Informationen von Flüchtlingshilfsorganisationen aus. Alle Meldungen werden gegenrecherchiert und erst veröffentlicht, wenn sie von zwei unabhängigen Quellen bestätigt werden.

Elke Schmidt hat das Projekt 1993 mit einer Mitstreiterin gestartet, nachdem sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die ARI gewandt hatte. Sie forschten nach und fanden heraus, dass er mit acht anderen tamilischen Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken war. Mit einem Filmteam machte die ARI damals den Tod in der Neiße öffentlich. Seitdem sammelt das kleine Team Nachrichten über Todesfälle, Misshandlungen und Gewalt, die in direktem Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik stehen.

Noch so ein Fall: Am 20. Januar 2014 stoppt die griechische Küstenwache einen Fischkutter. Darin sitzen 27 Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien. Einige wollen zu Verwandten nach Deutschland. Die griechische Küstenwache versucht den Fischkutter zurück auf türkisches Territorium zu drängen und nimmt ihn ins Schlepptau. In der stürmischen See reißt das Seil, der Kutter sinkt. Drei Frauen und acht Kinder sterben. Die Überlebenden mussten über Monate mit Hilfe von Pro Asyl darum kämpfen, dass sie bei Verwandten in Deutschland leben können. Auch darüber informiert die Dokumentation, die in Zeiten von Pegida und der erneuten Verschärfung der Asylgesetzgebung noch immer so wichtig ist wie vor über zwei Jahrzehnten. Dabei ist der größte Wunsch der Herausgeber, Zustände zu schaffen, in denen ihre Dokumentation endlich überflüssig wird.

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