Erziehung zum Argentinier

Einwanderung Buenos Aires war stets ein Zufluchtsort für Europäer. Doch mit der liberalen Willkommenspolitik könnte bald Schluss sein
Ausgabe 33/2017
Die Skulptur der bolivianischen Freiheitskämpferin Juana Azurduy in Buenos Aires
Die Skulptur der bolivianischen Freiheitskämpferin Juana Azurduy in Buenos Aires

Foto: Juan Mabromata/AFP/Getty Images

Da, wo die Autos im Rechtsverkehr und die Züge im Linksverkehr fahren, ist aus der Verschmelzung der italienischen mit der spanischen, der deutschen mit der englischen und anderen Kulturen eine neue Identität entstanden: der Porteño. Das sind viele Bewohner von Buenos Aires, die von sich sagen, sie fühlten sich als Argentinier und zugleich als vergessene Kinder Europas.

Doch wie europäisch ist Buenos Aires wirklich? In Argentiniens Hauptstadt leben knapp drei Millionen Menschen, in der Metropolregion sind es rund 13 Millionen, etwa jeder dritte Bewohner des Landes. Die Stadt am Rio de la Plata ist nicht nur das unumstrittene gesellschaftliche wie ökonomische Zentrum des Landes – der Global City Index einer US-Denkfabrik zählt sie zu den 30 wichtigsten Städten weltweit, was den Porteños nur recht ist. Die Porteños halten Buenos Aires für eine der aufregendsten Metropolen überhaupt mit Hunderten Theatern, Kleinkunstbühnen und Tango-Lokalen sowie einem ausschweifenden Nachtleben. Restaurants servieren das Abendessen gegen ein Uhr nachts, Techno-Partys laden anschließend dazu ein, bis zum Morgengrauen durchzutanzen. Außerdem soll Buenos Aires die breitesten Straßen und die meisten Psychotherapeuten der Welt haben. Im Stolz auf ihre Stadt mangelt es den Einheimischen nicht am nötigen Selbstbewusstsein. Was hier ebenso auffällt, ist der Umstand, dass man als Europäer kaum auffällt. Es sei denn, man macht den Mund auf. Das von den Porteños in Zischlauten genuschelte Spanisch ist nicht nur schwer verständlich, sondern noch schwerer zu imitieren.

Rattenlinie der Nazis

Bis in die 1950er Jahre hinein galt Argentinien als einer der reichsten Staaten weltweit. Später haben etliche Finanzkrisen das Land erschüttert, dennoch ist der Glanz von einst in Buenos Aires noch immer sichtbar. In die Blütezeit des Landes fiel die große Migration aus Europa. Allein zwischen 1870 und 1930 erreichten rund sechs Millionen Menschen das südamerikanische Land, um ihr ökonomisches Glück, später auch Schutz vor den in Europa wütenden Kriegen und Diktaturen zu finden. Weil Arbeitskräfte für eine boomende Agrarwirtschaft gebraucht wurden, konnte kommen, wer wollte. Die Mehrheit der Zuwanderer stammte aus Italien und Spanien. Nach 1945 fanden über die „Rattenlinie“ Nazis aus Deutschland und Österreich in Argentinien ein Exil, nachdem zuvor Zehntausende jüdische Flüchtlinge an gleicher Stelle ein Refugium gesucht hatten. Davon zeugt in Buenos Aires noch heute das jüdische Viertel.

„Argentinien ist ein echtes Einwanderungsland“, meint Hugo Mouján. Der 65-Jährige sitzt in seinem Büro direkt am Hafen, wo heute die großen Fähren aus dem benachbarten Montevideo einlaufen. Mouján ist Sprecher der Migrationsbehörde und der beste Beweis für seine These. Der volle Name – Hugo Mouján Peralta Andrade Egusquiza Kelway – erzählt die Migrationsgeschichte von Vorfahren aus Frankreich, Spanien, Portugal, dem Baskenland und Schottland. „Und was bin ich?“, fragt Mouján, der in Buenos Aires auch als Schauspieler und Journalist arbeitet. „Ein Argentinier, der sich als Porteño fühlt.“

Hat sich aus dem Schmelztiegel von einst tatsächlich eine neue argentinische Identität geformt? "Damals war nicht so sehr die kulturelle Vielfalt das politische Ziel, sondern eine Vereinheitlichung“, sagt Hugo Moujan. Meist sei das schon in der zweiten Einwanderergeneration gelungen – durch die Erziehung an den Schulen, wo argentinische Sprache und Geschichte gelehrt wurden, sowie durch den Militärdienst und die vielen Sportvereine. Dabei habe die „Erziehung zum Argentinier“ bereits in den Migrantenhotels begonnen, in denen Neuankömmlinge unterkamen.

Eine dieser ehemaligen Herbergen liegt direkt neben Moujáns Büro. In diesem monumental anmutenden Bau waren Anfang des 20. Jahrhunderts oft bis zu 3.000 Personen untergebracht, denen das Nationalgetränk – der Mate-Tee – serviert wurde. Gegenüber lag das Arbeitsamt, so ließ sich Fuß fassen in der neuen Heimat. „Die Argentinisierung war vor allem ein Versuch der Eliten, die Einheit der Nation zu gewährleisten“, erklärt Marcelo Huernos, Geschichtsprofessor und Kurator am Immigrationsmuseum, das seit ein paar Jahren im einstigen Migrantenhotel untergebracht ist. „Jedoch korrespondierte die Argentinisierung mit einer völligen Negierung indigener und afrikanischer Einflüsse“, so Huernos.

Kolumbus gestürzt

Die Auslese nach ethnischen Kriterien hat in den meisten Ländern Lateinamerikas eine lange Tradition. Bereits die aktive Anwerbung von Migranten im 19. Jahrhundert war von rassischen Überlegungen bestimmt. Erwünscht waren Nord- und Mitteleuropäer oder, wie es Juan Bautista Alberdi, der Vater der argentinischen Verfassung, ausdrückte: „Völker, mit denen sich die argentinische Spezies verbessern lässt“. Tatsächlich kamen vor allem Südeuropäer. Das Land brauchte die Migranten, zu groß war der Arbeitskräftemangel. Der flächenmäßig achtgrößte Staat der Erde war vor 150 Jahren kaum besiedelt, was auch an dem von der spanischen Conquista verübten Genozid an der indigenen Bevölkerung lag. Ähnlich erging es Zehntausenden von Sklaven, die aus Afrika nach Argentinien deportiert wurden. 1810 soll jeder dritte Porteño schwarz gewesen sein. Viele davon starben in den Befreiungskämpfen zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder durch grassierende Epidemien. Es handelt sich um ein Kapitel der argentinischen Geschichte, mit dem noch heute verhalten umgegangen wird. Viele Landsleute, so Professor Huernos, würden ihre indigenen oder afrikanischen Wurzeln verleugnen. „Es gibt noch immer xenophobe Vorurteile und die Legende von guten und schlechten Migranten.“ Wie man das aus Europa kennt: Racial Profiling oder Probleme bei der Jobsuche für bestimmte Zuwanderergruppen.

Besonders Bolivianer müssen oft in Nähereien unter äußerst prekären Bedingungen arbeiten. Vereinzelt kommt es zu Übergriffen auf Migranten, die gezwungen sind, im suburbanen Raum zu leben, in den Armutsvierteln oder „Villas“, die selten auf Karten eingezeichnet sind. In Buenos Aires wird das Quartier Liniers im Osten der Stadt auch „Klein-Bolivien“ genannt. Ganz so wie in den Heimatländern der Bewohner, in Bolivien oder Peru, werden Plastikspielzeug, Nüsse und Reis in großen Säcken oder frisch gepresste Säfte lautstark unter freiem Himmel feilgeboten. In diesem Bezirk betreibt Ramiro Wilmer eine Reiseagentur und produziert zugleich eine Radiosendung für die bolivianische Community. Vor 32 Jahren ist Wilmer selbst aus dem Andenstaat emigriert und hat erfahren, wie schwer eine Ankunft in der neuen Heimat sein kann. In der Schule wurde er rassistisch beschimpft, auch von den Lehrern. Trotzdem wollte er bleiben. Der ehemalige Sehnsuchtsort der Europäer hat wenig von seiner Anziehungskraft eingebüßt, erst recht nicht für Zuwanderer aus Lateinamerika. „Buenos Aires ist eine sichere Stadt, die einem viel zu bieten hat, was Bildungsmöglichkeiten angeht, ebenso eine gute Gesundheitsfürsorge“, meint Wilmer. „Außerdem hat die Diskriminierung andiner Migranten nachgelassen.“ Das liege auch daran, dass inzwischen viele Nachkommen bolivianischer Einwanderer in Buenos Aires lebten, im ganzen Land seien es weit über eine Million.

Wer die Porteños selbst auf das Thema Migration anspricht, hört nicht mehr vorzugsweise Geschichten über italienische, spanische oder deutsche Vorfahren, sondern über venezolanische, bolivianische oder paraguayische. Viele Latinos kommen zum Studieren – und bleiben hier. Längst durchdringen junge Migranten aus südamerikanischen und afrikanischen Ländern die Kultur- und Partyszene der Stadt. Auf den Kleinkunstbühnen San Telmos sind sie ebenso präsent wie in den Technoklubs von Palermo. Buenos Aires ist wie manche europäische Metropole zum kosmopolitischen Schmelztiegel geworden.

Seit 2004 gibt es ein neues, progressives Einwanderungsgesetz. Demnach kann, wer sich zwei Jahre legal in Argentinien aufhält, die Staatsbürgerschaft beantragen. Zudem seien die Aufstiegschancen wieder größer, glaubt Marcelo Huernos. „Früher konnten sich Kinder von Einwanderern oft ökonomisch verbessern, weil die Durchlässigkeit nach oben recht groß war. Das hat sich aber seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 und den neoliberalen Einflüssen geändert. Erst unter der Regierung von Präsidentin Kirchner gab es wieder eine Politik der sozialen Inklusion.“ Die linksperonistische Cristina Kirchner war es auch, die ein äußerst symbolträchtiges Zeichen setzte, und das mitten in Buenos Aires. Direkt hinter dem Präsidentenpalast stand ein Jahrhundert lang die Statue des Entdeckers und Eroberers Christoph Kolumbus. Begleitet von Erstaunen und Protesten ließ Kirchner sie im Juli 2015 abbauen und stattdessen eine Skulptur auftstellen, um die halbindigene bolivianische Freiheitskämpferin Juana Azurduy zu ehren.

Allerdings ist dieser Denkmalsturz nun in Gefahr. Kirchners Amtsnachfolger, der neoliberal und konservativ orientierte Mauricio Macri, denkt nicht nur darüber nach, Kolumbus wieder die Ehre zu geben. Seine Regierung macht desgleichen Stimmung gegen Ausländer – und hat zu Jahresbeginn deutlich verschärfte Einwanderungsgesetze erlassen. Macri, Sohn italienischer Zuwanderer und Ex-Bürgermeister von Buenos Aires, will offenkundig die Uhren des Wandels zurückdrehen. Solcherart Wendewut kennt man von der anderen Seite des Atlantiks. So gesehen ist Buenos Aires wirklich bemerkenswert europäisch, nur eben am anderen Ende der Welt.

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