Im Camp Atmeh an der türkischen Grenze gibt es keine Passkontrollen, nur ein Loch im Stacheldrahtzaun. Weil in dieser Gegend aber die Freie Syrische Armee (FSA) und Kurden mit guten Kontakten zur PKK unterwegs sind, sperren die türkischen Behörden diesen Durchgang. Wir müssen zum offiziellen Grenzübergang in Bab al-Hawa. Zwei von uns haben syrische Pässe und werden durchgewunken. Zwei haben keine und müssen von kurdischen Teenagern über die Grenze geschmuggelt werden.
Sie erzählen, auch schon Tschetschenen und andere Kaukasier durch diese Gegend gelotst zu haben, und wollen, dass wir an einer Stelle über die Mauer klettern, die offenbar noch immer zum türkischen Grenzregime gehört. Ich sehe meinen Kollegen an. „Sollten wir da
ten wir das tun?“, frage ich ihn auf Englisch. „Ich weiß nicht. Sprich noch ein bisschen mit ihnen,“ antwortet der. Schließlich rufe ich Abdullah an, einen unserer syrischen Gastgeber auf der anderen Seite. Der sagt, wir sollen tun, was die Jugendlichen sagen.Ich klettere so schnell, dass die Höhenangst keine Zeit hat, sich meiner anzunehmen, reiße mir die Beine auf, springe, lande auf Beton, stehe auf und gehe dann über sorgsam gemähten Rasen, als wenn nichts gewesen wäre. Ich bummle durch die Duty-Free-Zone mit Klimaanlage und warte danach auf den Bus durchs Niemandsland. Hier sind keine Privat-Pkws mehr erlaubt, seit im Februar eine Autobombe 13 Menschen getötet hat. Vor mir im Bus sitzt eine dickliche Version Che Guevaras mit Locken und Bart, nur dass auf der Baskenmütze steht: „Kein Gott außer Gott“. Auf der syrischen Seite wirft ein Kämpfer des Farouq-Bataillons einen Blick auf meinen Pass. Hinter ihm stehen Männer mit Kalaschnikows. Mit ihren bunt zusammengewürfelten Uniformen wirken sie nicht weiter bedrohlich.Waffen, keine MännerSo habe ich Syrien noch nie gesehen. Statt Assads blauäugigem Konterfei prangt auf einer Barriere die Flagge der Freien Syrischen Armee. Entlang der Straße viele Graffiti: „Freiheit für immer“, „Die Stunde null rückt näher“, „Tod den Feinden Gottes“. Die Triumph-Semantik wird sofort von der Wirklichkeit des Lagers in Bab al-Hawa konterkariert, wo Zelte aus hellblauem feuergefährlichem Plastik direkt auf Beton stehen – ein Untergrund, der bei Sonne brennend heiß und schon beim geringsten Regen überflutet wird.Wir Auslandssyrer auf der Suche nach einer fremden Heimat werden in einen Wagen gezwängt und erfahren, dass unser Chauffeur Ra’ed Fares dem örtlichen Revolutionskomitee angehört. Während der Fahrt zieht an den Autoscheiben ein heißer, windiger Nachmittag vorbei – stoppelige Weizenfelder, steinige Felsen, glatte Hügel, ein Olivenhain. Manchmal sind Teile der Straße von Panzern aufgerissen. In einem Dorf hat jemand das Logo der Jabhat al-Nusra an die Wand gemalt. Unsere säkularen Gastgeber werden später berichten, dass die islamistische Gruppe, die von den USA als Terror-Organisation geführt wird, diesen Streifen Land befreit hat. Leider musste besonders Aleppo unter der Rücksichtslosigkeit und dem Fanatismus der Islamisten leiden, beklagen die Erzähler.Nicht so Abu Abdullah, der mit der Rebellengruppe Liwa al-Islam in den Vorstädten von Damaskus gekämpft hat, bis ihn ein Schuss in den Fuß traf. Er schockiert mich mit der Aussage: „Wir kämpfen nicht für die Freiheit, sondern für den Islam.“ Was folgt, beruhigt einigermaßen. „Europa ist sich nicht darüber im Klaren, was der Islam bedeutet – er erzieht die Menschen und respektiert ihre Rechte, denn das Gesetz ist für alle gleich.“Abu Abdullah ist ein Islamist, der unverschleierten Frauen die Hand gibt und glaubt, dass Christen oft mehr Selbstachtung besitzen als Muslime. Aber er kämpft nicht für die Freiheit, weil das Wort für ihn bedeutet, dass jeder tut, was er will. Seine Vorstellung eines islamischen Staates ist durchaus mit Demokratie vereinbar. Nichts zwinge ihn zur ideologischen Loyalität, meint er und zitiert den Koran: „In der Religion gibt es keinen Zwang“. Ausländische Kombattanten verachtet Abdullah wie fast alle, mit denen ich spreche. Syrien habe genug Männer. Es brauche Waffen, keine Männer. Ausländer machten nur Schwierigkeiten. Sie sorgten für eine religiöse Spaltung, wie sie Assad und die Iraner wollten. „Sie schaden dem Ruf der Revolution. Derzeit kämpfen die meisten von ihnen nicht, sondern warten auf ‚die nächste Phase‘.“Eine letzte FrageEr schimpft auf die Türken, weil sie schwere Waffen zurückhielten, die von der FSA so dringend gebraucht würden, auf der anderen Seite aber nichts unternähmen, um den Zustrom ausländischer Dschihadisten zu unterbinden. „Es handelt sich um eine Verschwörung, damit Amerika mit uns dasselbe machen kann wie mit Afghanistan.“ Vielen fällt es nicht schwer, dieser Verschwörungstheorie zu glauben. Alle warten gespannt auf die Reaktion des Westens nach dem mutmaßlichen Giftgas-Angriff bei Damaskus. Käme es zu einer Flugverbotszone, die von den USA oder der NATO durchgesetzt würde, könnte die Assad-Armee mit ihrer Luftwaffe nicht mehr viel anfangen. Aber noch ist nicht so weit. Und Leute wie Abu Abdullah glauben ohnehin kaum, dass es so weit kommt.Wir erreichen Ebla, eine ausgegrabene Stadt aus dem dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, und danach die einst prächtige Metropole Maarat al-Nu’man. Wegen der andauernden Schlacht um die Autobahn von Hama nach Aleppo sind in Maarat viele Blocks zerstört. In einem der feinsten Museen Syriens gab es hier eine Sammlung byzantinischer Mosaike aus einer osmanischen Karawanserei. Monatelang stand das Haus zwischen den Fronten und wurde von beiden Seiten geplündert. In Maarat lebte im 11. Jahrhundert der große Poet und Atheist Abu Ala’a al-Ma’ari, einer der wichtigsten Vertreter der klassischen Tradition. Salafistische Milizionäre hat das jüngst nicht gehindert, seiner Statue den Kopf abzuschlagen.Der Abend in der Stadt Kafranbel vergeht auf angenehme, fast surreale Weise. Die Terrasse des Büros des Revolutionskomitees ist voller Grünpflanzen. Von hier aus kann man Olivenbäume und weidende Schafe sehen. Ein Hochsommer-Mond, eine kühle Brise und die üblichen Geräusche einer syrischen Nacht: angeregte Unterhaltungen, Lachen, Oud-Klänge und ein Geräusch wie Donner – Raketen, die Assad-Militärs im zwölf Kilometer entfernten Wadi abfeuern. Eine sichere Entfernung, Kafranbel ist den ganzen August über noch nicht beschossen worden.Das Medienbewusstsein ihrer Einwohner hat die Stadt zu einem der ungewöhnlichen Zentren des Widerstandes gemacht. Jede Woche werden neue Slogans auf Englisch und Arabisch erfunden. Der letzte spielte mit einem Shakespeare-Zitat aus Julius Caesar: „O Urteil! Du entflohst zum blöden Vieh, und die UN wurden unvernünftig!“ Der Spruch vom April übermittelte Boston nach dem Marathon-Anschlag das Beileid von Kafranbel und erinnerte daran, dass derartige Dinge in Syrien jeden Tag passieren. Seit Anfang August lauten die Slogans: „Obama! Du hast uns nur Waffen geschickt, um diesen Konflikt fortzusetzen! Schick uns Waffen, um unsere Revolution zu gewinnen!“ Das Motiv an einer Hausmauer spielt auf das berüchtigte Video an, auf dem ein Aufständischer vom Herzen eines toten Soldaten abbeißt. Es zeigt Putin und Assad, wie sie in einem Topf mit Blut rühren, und Putin sagt: „Lass uns behaupten … die FSA-Leute sind Kannibalen.“Trotz der Anstrengungen, die in Kafranbel unternommen werden, ist der Medienkrieg verloren. Das westliche Narrativ besagt, dass es sich in diesem Land nicht länger um eine Revolution, sondern um einen Bürgerkrieg handle. Es gehe um einen Konflikt, der seine Wurzeln nicht in Assads Repressionen, sondern im theologischen Zwist zwischen Sunniten und Schiiten habe. Dadurch wurde das gesellschaftliche Gefüge zerrissen.Wenn Syrien unter diesen Bedingungen überhaupt eine Nation bleibt, dann wird es eine von Witwen und Waisen, Vergewaltigten, Versehrten und Gefolterten sein. Kann man sich davon erholen?Als uns Ra’ed Fares wieder zurück nach Norden fährt, kommt es zu einem Halt in der Stadt Hass. Wir sprechen mit einem Apotheker über Leishmaniose, eine Krankheit, die von Fliegen verbreitet wird und gegenwärtig im ganzen Land grassiert. Abu Farouq klagt, er habe zwar die Spritzen – die Behandlung umfasst Injektionen in die Geschwüre, die von der Krankheit verursacht werden –, aber nicht das zu injizierende Medikament.Auf dem letzten Teil unserer Fahrt, kurz vor der türkischen Grenze, stelle ich Ra’ed eine letzte Frage. „Wenn du gewusst hättest, was geschehen würde, hättest du dich dann immer noch der Revolution angeschlossen?“ – „Nein“, sagt er nüchtern. „Der Preis ist zu hoch. Allein in Kafranbel haben wir 150 Märtyrer. Und noch einmal so viele werden vermisst. Wahrscheinlich sind auch sie tot.“ Er reibt sich die Nase. „Ich kann nicht mehr weinen, ich fühle nicht mehr viel, weil ich zu viel gesehen habe.“ Die Hände am Lenkrad zuckt er mit den Schultern. „Aber jetzt ist es zu spät. Es gibt kein Zurück mehr ...“
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