1973 Vor 40 Jahren stürzt Chiles Armee den linken Präsidenten Salvador Allende. Tausende seiner Anhänger werden verhaftet und getötet. So auch der Arzt Hernán Henríquez
Die Putschisten beschießen in Santiago den Präsidentenpalast
Foto: AFP /Getty Images
Im Herbst 1973 verlor Chile die Demokratie und die Ärztin Ruth Kries ihren Mann. Hernán Henríquez, Arzt und Mapuche-Chilene, verschwand so wie viele Tausende anderer Opfer, als das Militär putschte und mit Folter und Mord gegen seine Gegner vorging. Die Regierung der Unidad Popular unter dem Präsidenten Salvador Allende wurde gestürzt. Der Präsident nahm sich das Leben, als die Luftwaffe seinen Amtssitz bombardierte.
Ruth Kries und ihr Mann lebten damals im äußersten Süden Chiles. Die abgelegene Gegend, von ihren Ureinwohnern, den Mapuche, als Araucanía bezeichnet, war im 19. Jahrhundert von Weißen besiedelt worden. Einige wenige Großagrarier – viele davon Einwanderer aus Deutschland – standen einer Mehrheit von In
eit von Indigenos gegenüber, deren Grund und Boden vom chilenischen Staat großzügig verschenkt wurde. Die Mapuche lebten danach plötzlich als Tagelöhner auf dem Land ihrer Väter. An diesen Verhältnissen sollte sich erst nach 1960 etwas ändern, als der christdemokratische Präsident Eduardo Frei eine kleine Bodenreform dekretierte. Die Mapuche besetzten daraufhin das ihnen zugesagte Land, was die Großbauern als existenzielle Bedrohung empfanden und Milizen aufstellten, um ihr vermeintliches Eigentum gegen die Ureinwohner zu verteidigen.Der junge Hernán Henríquez verließ um jene Zeit die Araucanía und gehörte zur ersten Gruppe von Mapuche-Chilenen, die ein öffentliches Bildungssystem nutzen konnten. In Concepción, der nächstgelegenen Universitätsstadt, studierte er Medizin und trat bald dem sozialdemokratischen Partido Radical bei. Er lernte Ruth Kries kennen, deren Familie einst aus der Ukraine nach Chile kam. Sie verliebt sich in den unermüdlichen Aktivisten, beide heiraten 1964, doch muss Hernán schon bald als Landarzt nach Temuco, während Ruth ihr Medizinstudium beendet und sich um die drei Kinder kümmert. Erst 1969 kann sie endlich hinterher ziehen und eine Stelle am örtlichen Hospital von Temuco antreten. Hernán war inzwischen Chefarzt geworden und baute einen Gesundheitsdienst für die Mapuche auf. Bis dahin hatte es solche Versorgung für sie nicht gegeben. „Es war eine unglaublich intensive, eine glückliche Zeit“, erinnert sich Ruth Kries heute, „aber auch eine extrem angespannte Atmosphäre“.Kaum war die junge Familie wieder zusammen, begann im Jahr 1970 die Kampagne der Linksallianz Unidad Popular für die Wahl Salvador Allendes, der den Konservativen in Temuco verhasst war, weil er mit der Landreform ernst machen wollte. Nach der Wahl des Sozialisten wurden bis September 1973 mehr als 130.000 Hektar enteignet und an die Mapuche verteilt. Aus Rache zündeten Patria y Libertad, die Miliz der Grundbesitzer, öffentliche Einrichtungen an und terrorisierte die indigenen Gemeinden. Doch Hernán, jetzt zuständig für den Gesundheitsdienst in mehreren Provinzen, ließ sich nicht einschüchtern. Im Juli 1973 begann die Ausbildung von 80 Gesundheitsberatern – sie sollten in den Dörfern auf Vorsorge achten und die Methoden der Schulmedizin mit dem traditionellen Wissen der Mapuche verbinden.Plötzlich in UniformAm 11. September 1973 – Ruth Kries arbeitete nach der Geburt ihres vierten Kindes wieder im Krankenhaus – war Unruhe auf den Fluren. Irgendetwas sei passiert in Santiago, sagten die Gerüchte. Unversehens waren Uniformierte im Hospital und forderten alle Sympathisanten der Unidad Popular auf, sie hinaus zu begleiten. „Selbst Kollegen von uns, von denen wir es niemals gedacht hätten, trugen plötzlich Uniformen der Reserve“, erzählt Ruth, die mit Hernán unter Hausarrest gestellt wurde, mit Wachen vor der Tür und Militärpolizei im Haus.Über einen Armeesender werden Namen verlesen – die Betroffenen sollen sich in den Kasernen melden. Am 12. September schon fällt der Name Hernán Henríquez, der von einem Militärstaatsanwalt vernommen, aber dann wieder in den Hausarrest entlassen wird. Tage später zerren Carabineros den Arzt aus dem Haus und werfen ihn auf die Ladefläche eines Lkw. Ruth läuft von Polizeistation zu Polizeistation, wird aber stets abgewimmelt, ihr Mann sei nicht hier. Man kenne ihn nicht, heißt es auch am Tor des Luftwaffenstützpunktes Maquehue. Am 5. Oktober jedoch gibt der Militärrundfunk bekannt, der Arzt Hernán Henríquez sei „auf der Flucht“ erschossen worden. Luftwaffen-Offiziere werden Jahre später aussagen, sie hätten ihn im Zellentrakt der Air Base zuletzt lebend gesehen, durch Folter bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Davon erfährt Ruth zunächst nichts. Sie geht in die Höhle des Löwen, zu Militärstaatsanwalt Alfonso Podlech, und verlangt, man möge ihr Hernáns Leichnam übergeben. „Feinde des Vaterlandes haben kein Anrecht auf ein Grab“, weist Podlech sie ab.Als sie das Gebäude verlässt, fängt der Schwiegervater sie ab. Der weiß von einem befreundeten Christdemokraten, der über die Folgen des Putsches erschrocken ist, dass die Militärs der „nervenden Witwe“ das gleiche Schicksal zugedacht haben wie ihrem Mann. Ruth bleibt keine halbe Stunde, um Temuco zu verlassen und in der Hauptstadt Santiago unterzutauchen. Dort findet sie Kontakt zu einem Netzwerk, das Verfolgten hilft. Die Gruppe gibt ihr ein Auto. Sie fährt damit Menschen durch die Stadt, die sie nicht kennt. Von vereinbarten Treffpunkten zu unbekannten Zielen. Schließlich vermittelt Viola, eine der Aktivistinnen, den Kontakt zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, die sie Ende Oktober aufnimmt. Tage später wird Viola verhaftet und wenig später zu Tode gefoltert.In der Botschaft findet Ruth Zuflucht, aber keine Ruhe. Während sie nachts auf ihrer Matratze liegt, sind draußen Schüsse zu hören. Direkt vor dem Botschaftsgebäude erschießt die Militärpolizei Chilenen, die versuchen, über die Mauer auf das sichere Gelände zu gelangen. Es beginnt eine Zeit des Wartens, denn im fernen Bonn kann sich die sozial-liberale Koalition nicht entscheiden, wer kommen darf. Während Staatssekretär Detlev Karsten Rohwedder mit der Junta über die Rückgabe deutschen Eigentums verhandelt, das unter Allende verstaatlicht wurde, warnt die CDU-Opposition: Unter den Flüchtlingen befänden sich „Terroristen“. Ende November gelingt es endlich, Ruths Kinder auf das Botschaftsgelände zu lotsen. Am 7. Dezember 1973 darf die erste Gruppe nach Deutschland ausreisen.Erst im Mai 2013Gemeinsam mit ihren Kindern landet Ruth Kries im eiskalten Frankfurt. Zum ersten Mal sieht sie Schnee in einer Stadt. Unterstützt von der „Liste demokratischer Ärzte“ kann sie bald schon als Kinderärztin an der Uni-Klinik anfangen. Bis heute, weit im Rentenalter, arbeitet sie immer noch beim Kindernotdienst – und widmet sich dem Vermächtnis ihres Mannes, auch wenn die chilenische Justiz jahrzehntelang alles abgeblockt hat. Den einstigen Militärstaatsanwalt Alfonso Podlech sieht Ruth 2008 in Rom wieder. Inzwischen 76 Jahre alt, hat ihn während eines Italien-Urlaubs ein europäischer Haftbefehl wegen der Ermordung eines italienischen Staatsbürgers ereilt. Nach drei Jahren entlassen ihn die Italiener aus der Untersuchungshaft. Am nächsten Tag ist er nach Chile verschwunden.Erst im Mai 2013 kommt die Aufarbeitung des Falls Henríquez wirklich voran. Alvaro Mesa, ein neuer Ermittler für Menschenrechtsverbrechen, lässt plötzlich 14 ehemalige Angehörige der Luftwaffe vorladen und in Haft nehmen. Ob der Fall damit zu einem Ende kommt, bleibt offen. Bisher schweigen die Militärs und werden von den Rechten im Land gedeckt.Der Direktor des Nationalen Kulturrates für Araucanía, Benjamin Vogel, schrieb in einem Kameradschaftsbrief, Menschenrechtsverletzungen seien 1973 „unvermeidbar“ gewiesen. Doch anders als noch vor Jahren denkbar, zwingt ihn ein Sturm der Entrüstung zum Rücktritt. Vielleicht ist Chile 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur und 40 Jahre nach dem Putsch bereit für die Wahrheit.
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