Arbeitsminister Walter Riester hatte sich und seinem Haus über den Sommer eigentlich eine Denkpause verordnen wollen, um mit Beginn der neuen Sitzungswochen des Bundestages einen Gesetzentwurf für die Rentenreform vorlegen zu können. Doch kaum war die Steuerreform im Bundesrat beschlossen, fing das Theater um die Rentenkonsensgespräche an. Inzwischen hat Gerhard Schröder einen großen Stapel Briefe von Angela Merkel auf dem Tisch, an dem nun auch die PDS Platz nehmen wird, und die Gewerkschaften hätten im Eifer der Diskussion beinahe das größte As aus dem Ärmel gezogen: Die nachträgliche Kündigung des Bündnisses für Arbeit. In der Sache jedoch ist in der letzten Tagen wenig diskutiert worden.
FREITAG: Sie beschäftigen sich seit anderthalb Jahrzehnten umfassend mit Sozialpolitik, der gegenwärtige Sozialminister Riester erst seit gut anderthalb Jahren - er war vorher im Vorstand der IG Metall vor allem für Tarif- , nicht für Sozialpolitik zuständig. Wenn Sie jetzt an Riesters Stelle wären - was würden Sie anders machen?
JOHANNES STEFFEN: Grundsätzlich: Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, die Finanzierung des gegenwärtigen Rentenversicherungssystems zu verändern und Leistungen zu demontieren, wie es der Arbeitsminister vorhat.
Walter Riester will vor allem den Anstieg der Beiträge zur Rentenversicherung von heute 19,3 Prozent auf 22 Prozent im Jahr 2030 begrenzen. Was stört Sie daran?
Nach Riesters Vorstellungen kämen zu den 22 noch vier Prozent der Arbeitnehmer für eine private Vorsorge hinzu - ohne gleichwertige Beteiligung der Arbeitgeber. Doch ich sehe bei der Finanzierung der Renten überhaupt keine Notwendigkeit, die Arbeitnehmer zusätzlich zu belasten und die Arbeitgeber zu entlasten. Zugleich senkt Riester das Rentenniveau von heute ungefähr 70 Prozent auf künftig rund 60,5 Prozent, wenn man sein Modell korrekt berechnet und auf die sogenannten Zugangsrenten bezieht. Das ist völlig unakzeptabel.
Ihre Alternative?
Ich möchte an der paritätischen Finanzierung festhalten und gleichzeitig auch am Leistungsspektrum der Rentenversicherung. 2002 wird nach zwei Jahren mit Anhebungen nur in Höhe der Inflationsrate das Rentenniveau 68,5 Prozent betragen. Wollen wir das in Zukunft beibehalten, wäre 2030 ein Rentenbeitrag von 24 Prozent nötig. Eine Belastung der Arbeitnehmer von voraussichtlich zwölf Prozent in 30 Jahren ist allemal günstiger als eine Belastung von 15 Prozent bei einem um rund zehn Prozentpunkte abgesenkten Rentenniveau für die älteren Arbeitnehmer, die dann auf die Rente angewiesen sein werden.
Schmälern hohe Beitragssätze zur Rentenversicherung nicht künftigen Wohlstand?
So gut wie gar nicht: Nach den jüngsten Untersuchungen des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums werden die Reallöhne und -renten in den nächsten drei Jahrzehnten jährlich um zwei Prozent steigen. Damit hätten wir selbst bei Steigerung des Beitragssatzes auf 24 Prozent immer noch etwa eine Verdoppelung von Real- und Renteneinkommen bis zum Jahr 2030. Es gibt also keinen Grund, der jüngeren Generation heute Angst zu machen, künftig durch Rentenbeiträge überfordert zu werden. Das Gegenteil ist der Fall: Die rot-grüne Konzeption sieht vor, dass die Jüngeren bereits ab 2006 einen höheren Arbeitnehmeranteil zur Altersvorsorge zahlen müssen, als sie 2030 zahlen müssten, wenn wir am gegenwärtigen Rentenversicherungssystem festhalten würden.
Also gibt es keinen Generationenkonflikt alt gegen jung?
Der ist demagogisch geschürt, um den Jungen vorzugaukeln, die rot-grüne Rentenpolitik würde sie bei den Rentenbeiträgen entlasten. Doch entlastet werden einzig und allein die Arbeitgeber. Alle bürgerlichen Parteien haben inzwischen die Aufgabe verinnerlicht - das reicht bis in Teile der Gewerkschaften hinein -, die gesetzlichen Lohnnebenkosten zu senken. Davon sind die Rentenversicherungsbeiträge ein Teil. Wer die Lohnnebenkosten senken will und keine himmlischen Quellen erschließen kann, kommt nicht darum herum, Leistungen drastisch einzuschränken. Ziel der Rentenpolitik ist nicht mehr die Sicherung des Lebensstandards für die sogenannten Standardrentner, sondern die Stabilisierung der Beitragssätze.
Riester und seine Mitstreiter begründen die Notwendigkeit struktureller Veränderungen mit der demografischen Entwicklung: Dadurch würde einer wachsenden Zahl von Rentenbeziehern eine sinkende Zahl von Beitragszahlern gegenüber stehen.
Das ist doch keine Neuigkeit. Darüber diskutieren wir Sozialpolitiker seit 20 Jahren. Auch im sogenannten Reformkonzept von Rot-Grün mit der Perspektive eines Beitragssatzes von 22 Prozent im Jahr 2030 ist diese Entwicklung bereits ebenso eingefangen wie bei meinem Konzept eines Beitragssatzes von 24 Prozent: Allein der Beitragsanstieg spiegelt die steigende demografische Belastung in den nächsten drei Jahrzehnten wieder - auch nach entsprechenden Modellberechnungen aus dem Hause Riester. Nach heutigem Erkenntnisstand kämen wegen der demografischen Entwicklung keinerlei weitere Belastungen auf die Rente zu.
Also ist außer der Anhebung der Beitragssätze keine Reform notwendig?
In diesem Zusammenhang: Richtig. Das hört sich zwar nicht besonders modern an, wo doch Riester und sein Chef schon seit längerem regelmäßig, wenn auch inhaltsleer, immer wieder für die Modernisierung von Wirtschaft und Sozialstaat eintreten. Dahinter steht vor allem der weitere Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die Öffnung der Kapitalmärkte: Privaten Finanzdienstleistern sollen bislang ungeahnte, staatlich subventionierte Geschäfte winken. Riester hat jetzt sogar ins Gespräch gebracht, auch internationalen Fonds Anlagemöglichkeiten im Rahmen der Privatvorsorge zu verschaffen, indem nicht mehr eine kontinuierliche Auszahlung im Alter Bedingung für staatliche Förderung sein soll, sondern auch einmalige Auszahlungen möglich werden sollen.
Wo sehen Sie dann Reformbedarf?
Auch bei der Finanzierung könnten Reformen sinnvoll sein, beispielsweise die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in die Beitragspflicht. Doch wirklich notwendig sind Reformen bei den Leistungen. Aber sie wären bei Umsetzung der rot-grünen Pläne eine Illusion. Dann wird es bei der Alterssicherung massive Lücken geben infolge von Erwerbsminderung, Arbeitslosigkeit, Kinderbetreuung und so weiter. Dafür könnte das Rentenversicherungssystem keinen solidarischen Ausgleich mehr leisten, was es heute noch kann. Doch weil wir in Zukunft häufiger unstete Erwerbstätigkeit haben werden, bedarf es einer Stärkung der solidarischen Rentenversicherung, nicht ihrer Schwä chung; also nicht ihres wenigstens teilweisen Wechsels zur privaten Vorsorge, die keinen solidarischen Ausgleich kennt.
Ursprünglich enthielt das Konzept des Sozialministers das Element einer sozialen Grundsicherung, das jetzt aufgegeben wird zugunsten einer Seniorensonderregelung in der Sozialhilfe. Halten Sie eine Grundsicherung für sinnvoll?
Schon, aber nicht im Zusammenhang einer Politik à la Riester. Die Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe hat Walter Riester im vergangenen Jahr damit gerechtfertigt, dass sich Langzeitarbeitslose keine Sorgen zu machen brauchten, weil Rot-Grün eine soziale Grundsicherung einführen werde. Würde man dieser Logik folgen, könnte man sämtliche Leistungen drastisch zusammenstreichen, denn zum Schluss könnte man immer auf eine soziale Grundsicherung verweisen. Nach meinen Vorstellungen würde eine Grundsicherung dank Reformen bei den Leistungen der Rentenversicherung perspektivisch überflüssig, doch im Konzept Riesters würde sie zunehmend Bedeutung gewinnen, weil die beitragsgedeckten Leistungen in seiner Logik immer weiter herunter gefahren würden.
Welche Vorteile kann eine Rente nach dem Kapitaldeckungsverfahren haben?
Ein Vorteil ist die angeblich höhere Rendite. Doch bei genauerer Betrachtung ist die private Rentenversicherung vergleichbar. Was ist bei vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit? Was ist im Hinterbliebenenfall? Was ist in Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Kindererziehung? Was ist im Falle der Notwendigkeit von Kuren oder Rehabilitationsmaßnahmen? Alle diese Risiken deckt eine private Versicherung nicht ab. Wer rechnet: Hätte ich 45 Jahre in die private Vorsorge eingezahlt statt in die Rentenversicherung, hätte ich eine bessere Rendite gehabt - argumentiert wie jemand, der nach 50 Jahren Feuerversicherung ohne Brand sagt: Was hätte ich mit den Prämien alles anfangen können!
Eine Untersuchung aus Großbritannien nennt für die Transaktionskosten kapitalgedeckter Rentenversicherungen einen Anteil von 40 Prozent des eingesetzten Kapitals.
Das ist wahrscheinlich ein Extremwert. Der Verwaltungskostenanteil der sozialen Rentenversicherung liegt bei rund zwei Prozent der Ausgaben des jährlichen Etats. Bei der privaten Lebensversicherung liegt er dagegen mit Werbungskosten, Provisionen, Verwaltungskosten bei einem zweistelligen Prozent anteil.
Was ist mit der Demographieabhängigkeit der kapitalgedeckten Rentenversicherung?
Sie ist nicht minder groß als die der sozialen Rentenversicherung. Denn kapitalgedeckte Vorsorge beruht volkswirtschaftlich darauf, dass diejenigen, die heute Ersparnisse bilden, diese Ersparnisse in 30, 40 oder 50 Jahren auflösen können. Das ist nur möglich, wenn die dann jüngere Generation, die aufgrund der demografischen Entwicklung zahlenmäßig abnimmt, ihrerseits in der Lage und bereit ist, Ersparnisse zu bilden. Ein Beispiel: Ein vor Jahrzehnten erworbener Immobilienbesitz, der weder veräußert noch vermietet werden kann, ist vielleicht eine Augenweide für Nostalgiker, aber ökonomisch im besten Falle unnütz. Denn wenn ich gesparte Werte im Alter nicht entsparen kann, weil es zum Beispiel aufgrund der demografischen Entwicklung weniger junge Menschen gibt, die bereit sind, Ersparnisse zu bilden, nützt die schönste kapitalfundierte Altersvorsorge relativ wenig, weil sie mit Wertverlusten bei Veräußerungen verbunden ist. Das gilt nicht nur für Immobilienbesitz.
Das Gespräch führte Friedrich Siekmeier
Johannes Steffen ist der Archivar des Sozialabbaus. Der studierte Volkswirt und Soziologe war bis 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Sozialpolitik an der Universität Köln. In der Arbeiterkammer Bremen beschäftigt er sich als Referent für Sozialpolitik mit sozialen Sicherungssystemen, Grundsatzfragen des Sozialsstaates und Sozialversicherungen. Steffen hat zahllose Aufsätze veröffentlicht, vorwiegend in Fachpublikationen. Im August erscheint sein Buch Der Rentenbetrug. Fakten und Tatsachen zur rot-grünen Rentenpolitik, beim VSA-Verlag, Hamburg.
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