Was für eine großartige Idee der Jenaer Publizistin. Für ihr letztes Buch ließ Katrin Rohnstock, die Gründerin von Rohnstock-Biografien, ehemalige DDR-Kombinatsdirektoren erzählen. Nicht nur für die Ex-Bosse geriet das Erzählen zum identitätsstiftenden Moment, ihre Geschichten sprechen heute zu uns, über den Alltag in der DDR – jenseits von Mangel-, Miss- und Kommandowirtschaft.
der Freitag: Frau Rohnstock, in Ihrem jüngsten Buch lassen Sie frühere DDR-Kombinatsdirektoren aus ihrem Arbeitsleben erzählen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Katrin Rohnstock: Wir haben die Biografie von Edgar Most geschrieben. Er war der letzte Vizepräsident der DDR-Staatsbank. Als ich den Erzählungen lauschte, dachte ich, das ist
tock: Wir haben die Biografie von Edgar Most geschrieben. Er war der letzte Vizepräsident der DDR-Staatsbank. Als ich den Erzählungen lauschte, dachte ich, das ist unglaublich, wie die DDR-Wirtschaft und das DDR-Finanzwesen aufgebaut wurden. Wir recherchierten weiter, doch wir fanden nur Klischees. Die Frage war, wie kann man ein authentisches Bild erhalten. So kamen wir auf die Kombinatsdirektoren.Vielen glauben, das waren nur bessergestellte Bonzen?Ich stamme aus Jena, meine Mutter hat in der Kombinatsleitung bei Carl Zeiss unter Wolfgang Biermann gearbeitet. Der benahm sich oft schlimm gegenüber Mitarbeitern. Doch wenn in unserem Garten befreundete Kollegen Rostbrätl gemacht haben, dann wurde engagiert über die Probleme in der „Firma“ diskutiert. Ich wusste also: Es gibt solche und solche.Was hat Sie am meisten überrascht, als Sie die Geschichten der Kombinatsdirektoren hörten?Wie schlau und ehrgeizig sie die enormen Probleme anpackten. Wie kollegial Wissenschaftler, Techniker und Produzenten zusammenarbeiteten. Ich war erstaunt, welches Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein sie für ihr Kombinat und die „Werktätigen“ hatten – obwohl sie höchstens 3.500 Mark Gehalt bekamen! Sie dachten gesamtgesellschaftlich.Was heißt das?Einmal bin ich bei einem Gespräch fast vom Stuhl gefallen. Dort wurde gesagt, dass fünf bis zehn Prozent der Arbeitskräfte uneffizient arbeiteten und durchgeschleppt würden. Das hatte natürlich Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität. Es entsprach der offiziellen Auffassung: Alle sollten in die Gesellschaft integriert bleiben.Sollte man stärker auf die früheren DDR-Wirtschaftsleute hören?Man sollte auf jeden Fall ihren Erfahrungsschatz zur Kenntnis nehmen. Die meisten kommen aus einfachen Verhältnissen, haben sich von der Pike hochgearbeitet, ein Ingenieur- und ein Ökonomiestudium absolviert und häufig promoviert. Sie haben nach der Wende Firmen gegründet.Glauben Sie, das wäre auch ein Zeichen für andere Ostdeutsche?Allerdings. Die Kombinatsdirektoren haben wie fast alle Ostdeutschen erfahren, dass ihr Leben und ihre Qualifikation von einem Tag auf den anderen entwertet wurden. Viele Ostdeutsche haben diese Kränkungen nicht vergessen.Die Unterschiede zwischen Ost und West sind schon lange Ihr Thema, in den 1990er Jahren haben Sie die Reihe „Ost-Westlicher Diwan“ herausgegeben. Warum?Ich wusste überhaupt nicht mehr, wohin ich gehöre. In den 1990er Jahren wurden die Ossis von den Medien verspottet: Wir waren die Blöden oder die Faulen. Ich wollte mich meiner Identität versichern. Deshalb erkundete ich mit dem Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg die mentalen Unterschiede zwischen Ost und West.Verstehen Sie die Westdeutschen?Ich habe immer beide Seiten gehört. 1998 habe ich die RohnstockBiografien gegründet. Anders als gedacht, erzählten mir vor allem Westdeutsche ihr Leben. Ich lernte, dass sich auch die Entwicklung im Westen keinesfalls gradlinig vollzog. Eine unserer ersten Erzählerinnen war Eva Homa, eine Jüdin, die sich während des Faschismus in Brandenburg versteckt hatte und nach dem Krieg in Berlin als Galeristin bitterarm blieb. Oder Herr K., der im Krieg ein Notabitur absolvierte, Offizier wurde, nach dem Krieg Neulehrer, dann Medizin studierte und zum Klinikdirektor aufstieg, dafür seine Ehe opferte. 2002 kam der erste Unternehmer zu uns, aus dem Sauerland. Er fragte, ob wir auch eine Firmengeschichte schreiben würden. Er leitete in vierter Generation ein Familienunternehmen.Danach kamen viele andere Unternehmer zu Ihnen, oder?Ja. Viele haben sich aus dem Nichts, ohne Studium und ohne Geld selbstständig gemacht, Tag und Nacht gerackert. Jeder verdiente Pfennig wurde in die Firma investiert. Mit dieser Verzichtshaltung gelang es ihnen, beachtliche mittelständische Firmen aufzubauen. Ich habe Hochachtung vor diesen Menschen. Von der Persönlichkeitsstruktur sind ihnen die Kombinatsdirektoren ähnlich.Warum ist es für Menschen so wichtig, ihre Lebensgeschichte zu erzählen?Beim Erzählen vergegenwärtigen wir uns, was wir erlebt und welche Widerstände wir gemeistert haben. Wir stellen fest: Das ist beachtlich, was wir geschafft und bewältigt haben. Mit dem Erzählen schaffen wir uns unsere Identität.Ist das Erzählen auch heilsam?Unbedingt! Enttäuschungen und Kränkungen verarbeiten wir, indem wir sie erzählen. Besonders gut ist es, sie im Kontext mit positiven Erlebnissen zu erzählen.Wer lässt bei Ihnen seine Biografie schreiben?Wir haben über 300 Geschichten aufgeschrieben. Die Geschichte des Prokuristen einer Kaufhauskette, der die Konzentrationsprozesse im Handel beschreibt, Autohausbesitzer, Spätaussiedler, Fleischer, Tischler, Hotelbesitzer. Übrigens kommen oft die Kinder zu uns, um die Geschichte der Eltern in Auftrag zu geben.Was ist für die der Antrieb? Wollen die Leute, dass jemand ihre Geschichte liest?Viele Menschen haben, wenn sie alt werden, das Bedürfnis, ihre Erinnerungen zu ordnen, das ist auch entlastend.Sie veranstalten einen Erzählsalon. Dorthin kommen Menschen, um zu bestimmten Fragen aus ihrem Leben zu erzählen. Warum?Nachdem ich die Firma gegründet hatte, klingelten häufig ältere Menschen, doch viele hatten kein Geld für ein aufwendiges Buchprojekt. Uns wurde bewusst: Wenn wir so weitermachen, müssen wir die Firma schließen. Ich habe gegrübelt, wie wir das Bedürfnis, sich zu erinnern und zu erzählen, auffangen könnten.Und dann?Brachte mich ein Bekannter, der Judaistik studierte, auf die Idee mit dem Sabbat. Freitags, nach dem Gottesdienst, essen die Juden gemeinsam. Sie sitzen am Tisch und jeder erzählt reihum, was er in der Woche erlebt hat. So erfährt jeder von jedem – von den Erfolgen und Freuden, den Enttäuschungen, Ängsten und Niederlagen. Davon angeregt begann ich, monatlich Erzählsalons zu veranstalten.Wie ging es weiter?Den Erzählsalon haben wir dann ehrenamtlich weiter erprobt. Etwa im Pflegeheim. Dort erlebten wir, dass Demente plötzlich Geschichten erzählten. Dann haben wir einen Erzählsalon auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses veranstaltet. Leicht Depressive fanden so neuen Lebensmut. Und als die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder Iris Gleicke 2014 den Industrieatlas vorstellte und alle überlegten, wie man den Osten wieder voranbringen könnte, weil die großen Investoren aus dem Westen ausblieben, wurde gesagt, dass die Ostdeutschen an ihre eigenen Potenziale anknüpfen müssen. Doch wie findet man die? Durchs Geschichtenerzählen. Das überzeugte Gleicke, und sie unterstützte das Projekt.Was hat das Erzählen im Osten gebracht?Viel. Im sächsischen Geierswalde gab es Konflikte zwischen Alteingesessenen und Neuzugezogenen. Mit dem Erzählsalon kam man einander näher. Wenn man die Geschichte des anderen kennt, kann man nicht einfach über dessen Bedürfnisse hinwegfegen. Marga, die berühmte Gartenstadt, verlor durch die Sanierung ihre gewachsene Sozialstruktur und die letzte Gaststätte. Durch die Erzählsalons wurde den Leuten bewusst, wie stark sie gemeinsam sind. Sie kämpfen nun um ein leerstehendes Haus, in dem sie ein Café betreiben wollen.Sie haben auch geflüchtete Menschen eingeladen, oder?In Sedlitz. Die Geflüchteten kannten keinen Tagebau. Wir haben sie zu einem Treffen eingeladen, bei dem die alten Bergarbeiterfrauen ihre Geschichten erzählten. Die jungen Männer aus Syrien und Afghanistan waren beeindruckt, wie hart die Frauen gearbeitet hatten. Dann wollten die Frauen wissen, wie die Männer nach Deutschland gekommen sind, und waren berührt von den Fluchtgeschichten.Haben Sie Lieblingsgeschichten?Die Lebensgeschichte von Ingar Brueggemann, die als eine der ersten Frauen und ersten Deutschen Mitte der 1960er zur WHO kam und bis zur Direktorin aufstieg. Sie erzählt, wie über 100 Nationen das Programm „Gesundheit für alle“ durchsetzten. Goethe sagt: „Eine Autobiografie ist der Gang eines Menschen durch die Widrigkeiten seiner Zeit.“ Wenn man sein Leben so erzählt, ist jede Lebensgeschichte einzigartig und spannend.Placeholder infobox-1
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