Vorhut der Ignoranz Im Manifest der amerikanischen Intellektuellen wird keineswegs überprüft, ob in Afghanistan ein "gerechter Krieg" stattfindet. Es wird kurzerhand unterstellt
Die deutschen Kritiker von Fukuyama, Huntington und Walzer hatten mit ihrer Replik im Mai an ein weithin anerkanntes moralisches Prinzip erinnert - die Unmöglichkeit, "einen Massenmord mit einem weiteren Massenmord zu rechtfertigen". Sie begründeten das mit dem Hinweis, dass dem von der "Anti-Terror-Allianz" in Afghanistan geführten Krieg bisher über 4.000 Unschuldige zum Opfer fielen. Dieses Argument traf die von den Amerikanern reklamierte Position keineswegs "indirekt", denn die von ihnen vertretene Theorie des "gerechten Krieges" verbietet Angriffe auf Zivilisten wie auch unverhältnismäßig hohe "Kollateralschäden". Gemessen also an ihren eigenen Kriterien wäre demnach der von den 60 verteidigte Afghanistankrieg illegitim.
Terroristencamp oder
erroristencamp oder Rotkreuzlager Die Amerikaner versichern wohl in ihrem aktuellen Manifest, gleichfalls über getötete afghanische Zivilisten "sehr besorgt" zu sein, werfen den Deutschen aber vor, sie behandelten das Thema "nicht seriös". Die Zahl von 4.000 Toten sei "im besten Falle unbewiesen". Und sie fügen hinzu: "Es ist moralische Blindheit, wenn Sie die unbeabsichtigte Tötung von Zivilisten in einem Krieg, dessen Grund gerechtfertigt ist und in dem es das Ziel der Soldaten ist, den Verlust von zivilem Leben zu minimieren, mit der beabsichtigen Ermordung von Zivilisten, die sich in einem Bürogebäude befinden, durch Terroristen vergleichen, deren oberste Ziel es ist, die Zahl getöteter Zivilisten zu maximieren." Von der Sorge über getötete Zivilisten war - wie die deutschen Kritiker zu Recht beklagten - schon im ersten Manifest aus Amerika nichts zu merken, nun abermals nichts. Dass die Zahlen "unbewiesen" sind - nicht zuletzt, weil die US-Armee wohlweislich über zivile Opfer nichts veröffentlicht - ist zudem belanglos. Da - wie die 60 ganz richtig erkennen - die Theorie des gerechten Krieges "die Anwendung von Waffengewalt zu begrenzen" sucht, liegt die Beweislast bei den Fürsprechern eines Krieges. Doch weder die 60 noch US-Militärs haben bisher glaubwürdige Statistiken vorgelegt, die für eine Proportionalität der "Kollateralschäden" sprächen. Ohnehin wären nicht nur die durch Bomben Getöteten, sondern auch diejenigen zu berücksichtigen, die wegen unterbundener Hilfslieferungen starben. Den Krieg dennoch zu verteidigen, ist moralisch verwerflich. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass die Attentäter des 11. September schwerlich eine größtmögliche Zahl getöteter Zivilisten beabsichtigt haben können, sonst hätten sie neben dem WTC nicht das Pentagon und das Weiße Haus angegriffen, beides militärische, keineswegs zivile Ziele. Was selbstverständlich für ein moralisches Urteil weitgehend irrelevant ist. Das ist es aber nicht nur bei al Qaida-Kämpfern, sondern auch bei US-Soldaten. Wie steht es also um das Bemühen letzterer, zivile Opfer zu vermeiden? Colin Powell erklärte während des Golfkrieges 1991 als Oberkommandierender der US-Armee, dass ihn die Zahl der von US-Bomben getöteten Iraker nicht wirklich interessiere (New York Times, 23.3.1991). Ist das für die US-Armee repräsentativ? In Afghanistan wurden neben Flächenbombardements zusätzlich Splitter-, Schwarm- und sogenannte Lungenbrecherbomben einsetzt. Für die Abwurfgebiete war nicht entscheidend, ob sich dort vorzugsweise Zivilisten oder Kombattanten aufhielten. Zusätzlich wurden Geschosse aus abgereichertem Uran abgefeuert, das die Menschen noch in Jahrhunderten schädigen kann. Auch fiel es den Amerikanern schwer, Terroristencamps von Rotkreuzlagern, Freudenschüsse auf Hochzeiten von Boden-Luft-Angriffen zu unterscheiden. Eine solche Armee beweist, dass sie ihr schon in Vietnam geltendes Prinzip beibehalten hat, erst einmal ganze Landstriche inklusive der dortigen Zivilisten unter Beschuss zu nehmen, bevor sie den Fuß hineinsetzt. Wer dieser Armee ein hinreichend ausgeprägtes Bemühen unterstellt, den Tod Unbeteiligter zu vermeiden, ignoriert die Fakten.Vergeltung oder Verteidigung Der gerechte "Kriegsgrund" wird von den 60 einfach unterstellt, statt begründet. Ein klassischer Verteidigungsfall - also ein anhaltender Angriff aufmarschierender Soldaten oder Panzerkolonnen - war nicht gegeben. Daher konnten die Attacken gegen die Taliban und al Qaida auch kaum als Verteidigung gelten, allenfalls als Vergeltung. Bei bloßen Vergeltungsmaßnahmen ist jedoch eine Inkaufnahme von zivilen Opfern nach den Kriterien des gerechten Krieges erst recht nicht legitim. Außerdem ist ein Vergeltungsakt durch die Theorie des gerechten Krieges, die Krieg nur als letztes zumutbares Mittel zulässt, so gut wie ausgeschlossen. Auch das Argument, militärische Verteidigung sei nicht nur gegen einen laufenden, sondern auch gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff legitim, zieht nicht. Erstens wurde von offizieller US-Seite nicht behauptet, weitere Angriffe stünden bevor. Zweitens dürfte al Qaida kaum über Interkontinentalwaffen verfügen. Daher hätte man einen unmittelbar bevorstehenden Angriff al Qaidas auch nur im Zielraum dieses Angriffs bekämpfen können, etwa auf US-Boden selbst und nicht 10.000 Kilometer davon entfernt. An keiner Stelle, weder im ersten Manifest noch in ihrem erneuten Schreiben, überprüfen die 60 tatsächlich, ob die Kriterien des gerechten Krieges erfüllt sind. Sie unterstellen deren Erfüllung kurzerhand. Offenbar ist es ihnen nicht um einen seriösen Gebrauch der Theorie des gerechten Krieges zu tun, sondern nur um deren propagandistischen Missbrauch zugunsten einer Apologie amerikanischer Aggression. Noch ein weiterer Punkt verdient Erwähnung. Die 60 beschweren sich, dass die deutschen Kritiker das internationale Machtungleichgewicht als Grund für ein Gefühl der Demütigung und eine wachsende Gewaltbereitschaft bei einigen Muslimen deuten und zudem gar den Abzug der US-Truppen aus Saudi-Arabien fordern. Daraus - so die 60 - ergebe sich eine "seltsame Konsequenz". Es heißt: "Falls die USA und ihre Verbündeten, das deuten Sie in Ihrem Brief zumindest an, weniger ... und Staaten wie Saudi-Arabien, Irak, Iran ... mehr Macht und Einfluss hätten, würde die Welt sicherer und friedlicher. Wenn man bedenkt, dass viele dieser Staaten von Despoten regiert werden, die ihre eigene Bevölkerung unterdrücken und jenen Terror exportieren, der gegenwärtig die Welt bedroht ..., dann können wir uns Ihrer Empfehlung nicht anschließen." Zunächst einmal wird im Brief aus Deutschland nicht nur von Staaten des Nahen Ostens gesprochen. Wenn etwa ein Staat wie Nicaragua in den achtziger Jahren mehr Macht gehabt hätte, wäre er von einer terroristischen US-Intervention verschont geblieben und hätte in Sicherheit und Frieden leben können. Was nun die despotische und fundamentalistische Saudi-Diktatur angeht, so wird sie schließlich von den USA selbst unterstützt. Tatsächlich sind doch die Amerikaner in den arabischen oder muslimischen Ländern, wie eine nach dem 11. September immerhin vom Wall Street Journal durchgeführte Umfrage zeigte, nicht deswegen verhasst, weil sie für Freiheit und Demokratie stehen, sondern weil sie militärisch schwachen Nationen in für die USA strategisch wichtigen Regionen Freiheit und Demokratie möglichst vorenthalten.
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