Polski sklep – Polnisches Geschäft – steht am Schaufenster des Eckladens in der Bonaventura-Straße am Rande von Rotterdams Ausländerviertel Tarwewijk. Drinnen verkauft Bozena Marczuk polnisches Brot, polnisches Bier und Dosenfleisch an Migranten aus Osteuropa. Ein junger Mann nimmt sechs Flaschen Lech-Bier. „Ich bin seit gut vier Monaten in Rotterdam“, erzählt Bozena Marczuk, während sie eine Zwiebel schält. „Mein Mann arbeitet hier schon länger als Fahrer einer Spedition. Wir kommen aus einem Dorf östlich von Warschau. Dort gibt es keine Arbeit, warum sollten wir es nicht in Holland versuchen?“
Bozenas Schaufenster wirbt nicht nur für Polski sklep. Ganz unten ist der Namenszug Zeko Jasarov und damit ein Hinwei
ein Hinweis auf den Ladenbesitzer platziert. Dieser Jasarov sei ein Jugoslawe, dem es plötzlich aufgefallen sei, dass er an den Polen gutes Geld verdienen könne, erzählt Leo Pas, Sprecher des Bürgervereins von Tarwewijk. „Dieser Jasarov ist ein mieser Typ. Er steckt Osteuropäer in kleine Zimmerchen und verlangt viel zu viel Miete. Außerdem belästigt er meine Frau. Am liebsten würde ich ihm einen Besuch mit dem Eisenrohr abstatten.“Obwohl der Tarwewijk oft als Ende der Welt hingestellt werde, sei die Lage so schlecht nun auch wieder nicht, meint Pas. „Vor einigen Jahren wurde hier gedealt und manchmal nachts auf der Straße herum geschossen. Das ist heute vorbei. Die Leute aus Osteuropa brauchen weniger Drogen. Osteuropäer sind Säufer. Manchmal kotzen sie von der dritten Etage runter auf die Straße.“Das Büro des Bürgervereins in einer ehemaligen Polizeiwache ist blaugrau von Zigarettenrauch. Pjotr, ein polnischer Sozialarbeiter aus Zielona Góra, gehört zum Inventar wie Leo Pas. Mit seiner Bikerjacke aus Leder und seinen wüsten blonden Haaren ist der 27-jährige Soziologe eine auffallende Erscheinung, aber zum Schweigen verdammt. Die Gemeinde hat es ihm verboten mit einem Journalisten über seine Arbeit als Kontaktperson von Polen, Bulgaren und Rumänen im Viertel zu reden. Es gibt keine andere Wahl, als sich dann also auf Herrn Pawel Janczuk zu stützen und mit ihm beim Spaziergang über einen Teil Rotterdams zu reden, den er wie seine Hosentasche kennt.Nicht stubenreinJanczuk hat erst einmal die Hosentaschen ausgekehrt wegen eines Zigarettenblättchens. Nun beginnt er zu erzählen. Eine Topografie der Einwanderung wird es. Geschichten vom Kommen und Gehen, vom Suchen, Stolpern und Fallen, während der Morgenwind ein bisschen Dreck aufs Trottoir fallen lässt, bevor er sich mit letztem Schwung hinauf auf die Dächer rettet.„Hier wohnen Polen und da drüben wohnen Polen seit Jahren schon. In diesem Haus lebte ebenfalls eine polnische Familie, aber die Gemeinde hat sie rausgeworfen.“ Janczuk geht weiter, an einem Haufen Sperrmüll und einem aufgerissenen Autoreifen vorbei. „Einst wohnten in diesem Block Dutzende Bulgaren, natürlich ohne Aufenthaltsgenehmigung. Vor einem Jahr drohte die Lage unhaltbar zu werden. Deswegen hat die Gemeinde eingegriffen und sie rausgeworfen. Wo die hingingen, weiß ich nicht. “Am Pleinweg, einer Seitenstraße, ist mit roter Farbe Romania an die Hauswand geschmiert. Daneben eine Tür ohne Klinke. Überall im Viertel stehen PKW mit polnischen. litauischen, bulgarischen, rumänischen und lettischen Nummernschildern. „Es ist schon komisch, dass Bulgaren und Rumänen sich zwar legal in den Niederlanden aufhalten können, aber nicht arbeiten dürfen“, meint Janczuk. Das halte Zehntausende aber nicht davon ab, nach Rotterdam zu ziehen. „Ich schätze, dass in dieser Stadt mindestens 30.000 Polen leben. Nur will das keiner hören. Weil es politisch nicht stubenrein ist, klar zu sagen, wie viel Einwanderer es wirklich gibt.“Vielleicht darf man bald wieder stubenrein sein. 2011 muss Deutschland seinen Arbeitsmarkt für Polen öffnen. Dann werde höchstens jeder dritte Pole weiter in Holland bleiben, glaubt Janczuk. „Alle anderen werden umziehen. Von Deutschland aus ist der Weg in die alte Heimat kürzer.“Zimmermänner und SklavenNach einer Studie der Erasmus-Universität Rotterdam zur Arbeitsmigration aus Ost- und Südosteuropa ist ein Großteil der Zuwanderer aus Bulgarien kaum ausgebildet und über 30 Jahre alt. Sie sind deshalb schlimmer dran als die meisten Polen. Von Arbeit in der Schattenwirtschaft abhängig. Von Schwarzarbeit. Immer in Gefahr, kriminell zu werden.Das weiß auch Hamit Acioz, ein türkischer Unternehmer in Rotterdam, der seit Jahren Bulgaren nicht abweist, sondern einstellt. „Manchmal nehme ich sie schon deshalb“, erzählt er in seiner Wohnung in der Afrikaanderwijk, „weil viele von ihnen türkisch sprechen. Bei den Rumänen ist das ganz anders. Die werden auf Baustellen nicht wie Nomaden, sondern wie Sklaven behandelt. Weil sie keine andere Sprache beherrschen, können ihre Vorarbeiter mit ihnen machen, was sie wollen, und ihnen den schmutzigsten Job geben.“ Wenn es gut geht, verdient ein rumänischer Zimmermann gerade 50 Euro am Tag. Und das schwarz. Immer in Angst, es könnte eine Kontrolle geben. „Kein Wunder“, sagt Hamit Acioz, „dass die kein Zimmer, sondern eine Matratze in einem Zimmerchen mieten, das sie dann auch noch mit anderen teilen, um Geld zu sparen.“„Ich lebe in diesem Viertel, solange ich denken kann“, erzählt Aad Barendrecht, Vorsitzende einer Nachbarschaftsvereinigung im Tarwewijk. „Mit den Leuten aus Osteuropa hat sich die Zahl der Umzüge enorm gesteigert. Es gibt Wohnungen, in die ziehen alle paar Monate andere Familien ein. Deshalb liegt immer ein Haufen Umzugsmüll vor den Häusern. Alte Möbel, alte Fernsehgeräte und was sonst so übrig bleibt. Die kommunale Müllentsorgung kann nicht öfter als üblich vorbeifahren, das würde zu viel kosten. Also bleibt alles liegen und stinkt.“Barendrecht kann sich gut vorstellen, dass die überfüllten Wohnungen, in denen Bewohner wechseln wie die Jahreszeiten, nichts für Genießer sind. „Wenn du in einem solchen Haus lebst, und du hörst über dir acht Rumänen laut miteinander reden, bist du bedient. Wenn diese Leute dann auch noch Musik hören, wird es nur schlimmer. Wenn jeden Morgen acht Bulgaren die Treppe zur Arbeit herunter stürzen, nervt das genauso. Wenn das Wetter schön ist im Sommer, frühstücken die Bulgaren auf der Straße. Ich verstehe das, weil ihre Wohnung viel zu klein ist, und jeder eben raus will. Die Nachbarn aber sind über frühstückende Bulgaren auf dem Bürgersteig nicht begeistert. Sind schließlich temperamentvolle Menschen, die gern singen.“Opfer des eigenen ErfolgsDie Kameleon-Schule dient als Auffangbecken für viele Kinder aus Migranten-Familien. Vizedirektorin Firdevs Durgut spricht von vier speziellen Übergangsklassen mit jeweils 15 Schülern. „Alle kamen in den letzten Jahren nach Rotterdam. Die meisten aus Osteuropa, aber auch viele aus Spanien, Portugal und Irland. Vielleicht hat das etwas mit der Wirtschaftskrise zu tun.“Es sieht so aus, als würde die Kameleon-Schule Opfer ihres eigenen Erfolges sein. Mit 343 Schülern aus 40 Ländern und den vier Übergangsklassen seien Grenzen des Wachstums erreicht, meint Durgut. „Wir konnten nicht anders, als einen Aufnahme-Stopp zu verhängen, weil es uns mittlerweile sowohl an Klassenräumen wie Personal fehlt. Natürlich ist das schade. Gestern noch habe ich einen elfjährigen spanischen Jungen zu einer anderen Schule schicken müssen, von der ich weiß, dass sie ihm dort nicht das Gleiche beibringen wie bei uns.“Seit dem Frühjahr 2009 geht Alexander Vilau, ein zehnjähriger Junge aus Rumänien, zur Kameleon-Schule. „Ich kam mit ihm im März nach Rotterdam, wegen der Liebe“, erzählt seine Mutter Daniela. „Ich hatte einen Freund aus Bukarest, der damals schon zwölf Jahre in Rotterdam lebte. Inzwischen ist vorbei mit der Liebe, aber nicht mit den Niederlanden. Wir wollen bleiben, weil es Alex gefällt und er schon ziemlich gut holländisch spricht. In Rumänien habe ich Wirtschaftswissenschaften studiert, leider keinen Abschluss gemacht.“Edit Holhos kam aus Kaposzvár in Südungarn. Mit ihren langen schwarzen Haaren und ihrer dunklen Haut sieht sie aus wie eine Roma. „Ja, ich bin eine Zigeunerin!“, sagt sie unverblümt. Ein oder der Grund, weshalb sie nicht in Ungarn bleiben wollte? Edit Holhos: „Mein Mann lebt schon länger in Rotterdam. Er ist Straßenbauer und hat sich selbstständig gemacht, zusammen mit seinem Bruder. Zuerst wohnten wir mit dem zusammen, aber im Juli haben wir unser eigenes Haus gekauft. Die Kinder gehen zur Schule. Wir wollen bleiben, in Ungarn hätten wir keine Zukunft.“Stadtrat Karakus von der sozialdemokratische PvdA weiß nur zu gut, dass Zehntausende aus Osteuropa ihre Zukunft in Rotterdam planen. „Sie tun das allem Ärger zum Trotz – sie lassen sich von überfüllten Wohnungen ebenso wenig stören wie von Leih- oder Zeitarbeit. Sie lassen sich von Ressentiments nicht abschrecken, denen sie in Vierteln ausgesetzt sind, wo Zugezogene wie Aussätzige behandelt werden.“Von einem Tag zum anderenFür eine faire Migranten-Politik in den Niederlanden, so Karakus, sollte es deshalb darauf ankommen, etwas gegen die Ausbeutung der Osteuropäer zu tun. „Skrupellose Miethaie in die Schranken weisen. Skrupellose Arbeitgeber genauso, die sich oft hinter Zeitarbeitsagenturen verstecken. 40 Prozent der Zuwanderer werden unterhalb des niederländischen Mindestlohns bezahlt. Wir wollen deshalb, dass Zeitarbeitsagenturen künftig eine Lizenz vorweisen müssen. Diese Firmen bieten in Osteuropa Arbeit inklusive Transport an. Aber zu welchen Konditionen – das zu kontrollieren, wird immer schwieriger.“Karakus findet es „bizarr“, dass seine Stadt die „sozialen Kosten“ für den Zuzug der Osteuropäer tragen müsse, während die Hälfte dieser Menschen doch außerhalb Rotterdams arbeite. „Mit der Eröffnung des niederländischen Arbeitsmarktes ab 2007 kamen sofort 15.000 Osteuropäer nach Rotterdam, vorrangig Polen. Von einem Tag zum anderen mussten wir sie alle unterbringen.“Der Stadtrat macht sich Sorgen, was geschieht, wenn ab 2013 auch Rumänen und Bulgaren theoretisch ohne jede Beschränkung in den Niederlanden arbeiten dürfen. „Wir können nicht noch einmal 15.000 oder 20.000 oder noch mehr Menschen aufnehmen. Ich fordere eine Pause. Über diesen Migrantenstrom aus Südosteuropa muss noch einmal nachgedacht werden. Stattdessen versteckt sich jeder hinter den EU-Verträgen. Nur wissen wir doch alle genau, aus welchen polnischen, rumänischen oder bulgarischen Regionen die Zuwanderer kommen. Die Europäische Union sollte endlich dort gezielt investieren.“
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