Sicher werden wir wieder über die Machtspiele von Gewerkschaftsvorständen, über wirtschaftsfeindliche Lohnforderungen, über den Erhalt von Pfründen auf Kosten der Steuerzahler belehrt, sollte es tatsächlich zum Streik im Öffentlichen Dienst kommen. Doch die medial kolportierten Klagen sind derzeit weniger scharf. Man hört auch Zwischentöne. Das Publikum zeigt mehrheitlich Verständnis, gestern bei den Lokführern, heute bei den Berliner Bahn- und Busfahrern und vermutlich auch morgen im Öffentlichen Dienst.
Es ist kaum verborgen geblieben, dass Lohnverzicht, Sparkurs und Schrumpfstaat nicht zu allgemeinem Wohlstand führen, wie uns seit 20 Jahren verheißen wird. Der derzeitige konjunkturelle Aufschwung geht an der Mehrheit vorbei; selbst Mittelschichten erfahren Absturz und Armut. Umgekehrt explodieren die Gewinne. Den oberen fünf Prozent ging´s noch nie so gut. Die jüngst aufgeflogene Steuerkriminalität der Spitzen der Gesellschaft ist bloß die unappetitliche Spitze des Eisbergs. Gravierender sind die Milliarden, die öffentliche Banken jüngst auf den Finanzmärkten verzockt haben. Da hat die öffentliche Hand binnen weniger Monate Werte vernichten lassen, die größer sind als die Jahreskosten bei voller Erfüllung der gewerkschaftlichen Acht-Prozent-Forderung.
Aber für die Arbeiter, Angestellten und Beamten ist kein Geld da! Die Unternehmens- und Kapitaleinkommen werden Jahr für Jahr entlastet. Selbst windige Kapitalanlagefonds erfreuen sich steuerrechtlicher Privilegien. Der Siegeslauf der Finanzinvestoren über die Realökonomie ist politisch gewollt, ins Werk gesetzt durch Umverteilung, Privatisierung und Umbau der Rentenversicherungen zugunsten privater Kapitalvorsorge. Die Wirtschaft krankt an überschüssigem Kapital, das im Wettlauf um maximale Rendite weniger an langfristigen Realinvestitionen interessiert ist als an kurzfristiger Gewinnrealisierung, auch auf Kosten der Substanz.
Höchste Zeit also, die Einkommen der abhängig Beschäftigten aufzubessern, aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit wie der volkswirtschaftlichen Vernunft. Auch im Öffentlichen Dienst. Die Gesellschaft muss entscheiden, was ihr eine gute und zukunftsfähige öffentliche Infrastruktur Wert ist. Volkswirtschaftlich sind öffentliche Leistungen unverzichtbare Produktivitätsfaktoren. Sie sind übrigens um so produktiver, je mehr sie ihren eigenen Gesetzen folgen. Es ist und bleibt volkswirtschaftlich besser und billiger, Schulen, Universitäten, Sicherheitsdienste, Rundfunkanstalten, Krankenkassen, Nahverkehr und Bundesbahn, Energie- und Wasserversorgung sowie einen Grundbestand von Wohnungen in öffentlicher, demokratisch kontrollierter Regie zwecks optimaler Versorgung anzubieten, statt sie den Renditeerwartungen privater Investoren auszuliefern. Keinesfalls werden die Leistungen dadurch verbessert, indem man die Arbeitnehmer durch Privatisierung in Unterbietungskonkurrenz gegeneinander treibt. Wer im Interesse der Bürger qualifizierte Arbeit leistet, hat Anspruch auf menschenwürdige Bedingungen und einen anständigen Lohn.
Gut möglich, dass die Schlichtung scheitert und die Gewerkschaften zum Streik gezwungen sind. Das ist dann auch gut so. Wenn es nötig ist, müssen die Arbeiter und Angestellten von ihrem Recht Gebrauch machen, ihren Anteil selbst zu erkämpfen, statt nur Zuschauer heldenhaften Verhandlungsmarathons zu sein. Das dient dem aufrechten Gang und fördert politische Einsichten, zum Beispiel welchen Interessen Politik und Staat zu dienen haben, wem Steuerdumping und Privatisierung Nutzen bringen, und wer den Schaden trägt. Die Mehrheit zweifelt längst am neoliberalen Einheitsdenken der politischen Klasse; die Mehrheit spürt, dass ihr in den Medien allabendlich eine Welt aufgeschwatzt wird, die nicht die ihre ist. Deshalb die Streikbereitschaft und das für deutsche Verhältnisse überraschende Verständnis der Bürger. Nach 15 Jahren Bescheidenheit tut eine Umkehr Not.
Detlef Hensche ist Rechtsanwalt und war viele Jahre Vorsitzender der IG Medien.
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