Es riecht manchmal verbrannt

Brüssel intim Jeden Tag moniert die EU-Kommission Dutzende Regelverstöße der 27 Mitgliedsstaaten und gibt die pedantische Gouvernante. Manche Direktive landet vor Gericht

Diese Kolumne ist langweilig. Sie besteht aus einer rücksichtslosen Aufzählung der Vertragsverletzungen, welche die Europäische Kommission an einem einzigen Tag vermerkte. An jenem zufällig gewählten Werktag wurden zusammengerechnet 56 mal MS ermahnt. MS heißt in Brüssel nicht Multiple Sklerose, MS bedeutet Mitgliedsstaat. Die EU-Kommission ist die Hüterin der Verträge. Sie sieht alles, wie eine pedantische Gouvernante.

Die erste Mahnung heißt letter of formal notice, danach hat der MS zwei Monate für seine Antwort Zeit. Die zweite Mahnung ist schon die letzte, sie heißt ganz harmlos reasoned opinion. Nach zwei weiteren Monaten wird der Fall an den Europäischen Gerichtshof überwiesen. Ich fand zum Beispiel die Verlautbarungen IP/09/1438-1492 im Pressesaal der Kommission: Ein halbes Jahr nach dem Brand des Hauptquartiers Berlaymont, heißt es darin, rieche es dort immer noch verbrannt.

Der Fairness halber schicke ich voraus, dass am Schluss dieses Textes doch noch kurz ein Mensch vorkommt.

Skilift im Vogelreservat

Am 8. Oktober mahnte die Kommission, dass 21 MS die Liberalisierung der Eisenbahn nicht ausreichend umgesetzt hätten. MS Griechenland wird belangt, weil Frachtunternehmern und Brennstoffhändlern keine Niederlassungsfreiheit gewährt worden sei. Auch fehle in Athen eine unabhängige Flugaufsichtsbehörde. Außerdem habe ein Dekret der Regierung die Stimmrechte nichtstaatlicher Shareholder bei einem Energieversorger auf fünf Prozent begrenzt.

MS Spanien wird gerügt, weil er im staatlichen Beschaffungswesen säumig war und eine Firma der Region Valencia öffentliche Aufträge vergeben ließ, die dort selbst Abwasser in ein Naturreservat leitete. Auch tat Madrid nichts gegen eine uneinheitliche Umsatzsteuer für Reisebüros.

Die britische Stadt Glasgow schrieb ihren sozialen Wohnbau nicht aus, das niederländische Eindhoven erschloss das Grundstück für ein Gemeindezentrum ohne Ausschreibung, die italienische Provinz Sondrio gab ihre Billigwohnungen nur an Studenten mit italienischem Wohnsitz oder Pass. Marks Spencer konnte den in Großbritannien vorgesehenen Steuernachlass für im Ausland erzielte Verluste nicht abschöpfen, Bulgarien baute Skilifte in Vogelreservaten, Rumänien richtete wiederum zu kleine Schutzgebiete für Wildvögel ein. Luxemburg und Portugal verschleppten die Anerkennung bulgarischer und rumänischer Berufsdiplome, Luxemburg bildete seine Pflegerinnen nicht gemäß EU-Standards aus.

MS Österreich gewährte eine zu weitgehende Umsatzsteuer-Ausnahme auf sportbezogene Dienstleistungen, die Slowakei und Tschechien schützten Konsumenten ungenügend vor unfairen Verträgen. In Portugal und Zypern wurden zugewanderte Immobilienmakler benachteiligt, in Portugal überdies Patentanwälte und Notare. Belgien diskriminierte beim Transit von Erdgas, die Niederlande bei der Vergabe von Auslandsstipendien, Finnland bei der Umsatzsteuer, die Slowakei bei der Rechtsberatung im Autobahnbau, Griechenland bei Kurierdiensten und Tierärzten.

Spinatsuppe vom Terroristen

Am 8. Oktober hatte die Gouvernante gewiss einen sehr starken Tag. Zu ihrer Verteidigung sei hinzugefügt, dass nicht nur 56 MS gerügt wurden – gegen neun MS wurden am gleichen Tag auch Verfahren eingestellt. MS Deutschland hatte sich nichts vorzuwerfen.

Ich traf am Abend eine dieser vielsprachigen Intelligenzbestien, die sich in Brüssel intellektuell und sexuell langweilen. Sie war Rumänin und hatte es bis in die letzte Runde des „Concours“ geschafft, des Auswahlverfahrens der Europäischen Kommission. Ich las ihr die Verlautbarungen über die MS des Tages vor. „Für diese Spezialität der Weltgeschichte wirst du arbeiten“, rief ich euphorisch, „für diesen Leviathan, für dieses beispiellos zwischen Behörde, Regierung und Jüngstem Gericht changierende Ding!“ Sie lächelte müde.

Ich brachte die Intellektuelle nach Saint Gilles in die Brasserie Verschueren. Als sich der angegraute Kellner entfernte, flüsterte ich, dass soeben der berühmteste Terrorist Belgiens die Spinatsuppe hingestellt habe. Der liebenswürdig umständliche Kellner, hauptberuflich Inhaber einer marxistischen Buchhandlung, hatte irgendeine Bank gesprengt und musste dafür ins Gefängnis. Das fand die künftige Beamtin kurz spannend. Ich persönlich finde es aufregender, dass so etwas wie die Europäische Kommission existiert.

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