Helge Schmidt greift als Theatermacher Themen auf, um die sich außer ihm niemand zu kümmern scheint, entweder weil sie zu kompliziert sind oder die Ohnmacht zu groß ist, Themen, die uns aber alleangehen.
Für seine Inszenierung Cum-Ex-Papers über den größten Steuerraub aller Zeiten gewann er den Faust-Preis 2019. Derzeit inszeniert er ein Stück für das Mecklenburgisches Staatstheater in einer Schweriner Plattenbausiedlung. Treffpunkt ist hier, in einer leer stehenden Wohnung.
der Freitag: Herr Schmidt, wie kam das, dass Sie sich an diesen Cum-Ex-Steuerskandal herantrauten? Normalen Leuten wie mir ist diese Steueraffäre einfach zu kompliziert.
Helge Schmidt: Es war eben die Verzweiflung darüber, dass das einem so kompliziert vorkommt! Und d
ompliziert.Helge Schmidt: Es war eben die Verzweiflung darüber, dass das einem so kompliziert vorkommt! Und das betrifft alle möglichen Skandale. Hier wollte ich nun dazwischen grätschen, fragen: Was steckt wirklich dahinter? In Cum-Ex sehe ich die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags.Cum-Ex ist der größte Steuerbetrug in der deutschen Geschichte, es geht hier um Milliarden Euro, doch das Thema scheint die Öffentlichkeit kaum zu interessieren. Woran liegt das?Zum einen eben dieses Gefühl, dass das Thema zu kompliziert ist. So wird es auch immer anmoderiert und das ist ein Fehler. Auf der anderen Seite gibt es wenig politisches Interesse daran, dass das Thema nochmal hochkommt, weil man feststellen würde, dass richtig viel falsch gemacht wurde. Der Skandal ist in der Zeit von drei Finanzministern von SPD und CDU passiert. Jeder Politiker, der das Thema anrührt, kann damit nur verlieren. Niemand will damit Schlagzeilen machen.Die Ermittlerteams sind unterbesetzt, Fälle drohen zu verjähren. Gibt es überhaupt ein staatliches Interesse, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen?Der Staat kann hier wirklich viel Geld zurückholen, das Interesse ist also schon da. Aber er kann nicht auf Augenhöhe agieren. Die Gegner haben die größere Expertise und die Manpower. Die Big-Five-Agenturen haben erst Gutachten verfasst, in denen stand, wie man Cum-Ex-Geschäfte „legal“ macht. Dieselben Agenturen erklären nun der Bundesregierung, warum die Praxis illegal war.Wie haben Sie es geschafft, das alles verständlich zu machen?Man muss nicht verstehen, wie dieses Konstrukt wirklich funktioniert. Das können nur Mathematiker. Ich kann das System nur total vereinfacht erklären. Wäre es tatsächlich so einfach, hätte der Prozess bestimmt schneller abgeschlossen werden können. Aber man kann es auf eine Sache runterbrechen: Leute lassen sich Steuer mehrfach zurückzahlen, die sie nur einmal gezahlt haben. Das versteht man. Und das findet jedes Kind ungerecht.Placeholder infobox-2Das Fernsehinterview mit dem Cum-Ex Kronzeugen Benjamin Frey wirkt wie eine Inszenierung: Frey tritt unter Decknamen mit einer Maske auf, seine Stimme wurde verzerrt. Sie interessieren sich für den Mann hinter der Maske. Im Stück geht es viel um Freys Biografie. Warum?Ich wollte nachvollziehbar machen, dass das eine Inszenierung ist. Die Geschichte, die Frey erzählt, hat er auswendig gelernt. Es fügt sich jetzt so schön zusammen: dass er aus armen Verhältnissen kommt, dann kam der große Aufstieg. Das mag zum Teil stimmen, aber es ist problematisch. Reich zu werden, wird immer als Erfolgsgeschichte verkauft. Man wird vermeintlich für etwas belohnt, das man leistet. Wir brauchen hier eine gesellschaftliche Gegenerzählung: Denn egal, wie man dahin gekommen ist, man kommt ja nicht aus der Verantwortung. Sie wussten alle, was sie tun – und das war falsch.Was kann Theater hier bewirken? Brecht prägte die berühmte Frage „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“. Heute wird sein Berliner Ensemble von der Deutschen Bank gesponsert.Unsere Vorstellungen sind immer komplett ausverkauft und die Leute wollen danach reden. Das ist trotz begrenzter Reichweite etwas, was wir erreichen können. Wir brauchen ein starkes öffentliches Interesse. Es ist auch wichtig, dass Zeitungen darüber berichten. Theater erreicht aber andere Menschen als ein Wirtschaftsblatt – das lese ich auch nicht oft. Letzten Endes sind Märkte nur von Menschen gemacht. Man hat immer das Gefühl, Dinge nicht zurückdrehen zu können, aber das kann man. Sklavenhandel war früher auch mal ein offizieller Markt. Wir könnten uns heute zum Beispiel fragen, ob es moralisch vertretbar ist, dass Unternehmen darauf wetten, dass ein Staat Pleite geht, und damit Geld verdienen.Für Ihr nächstes Stück „Wildes Land – Der große Dreesch“ inszenieren Sie in der Plattenbausiedlung am Schweriner Stadtrand, in der Sie selbst großgeworden sind. Warum?Der Plattenbau war eine super Erfindung. Es gibt einen „Dreesch“ in vielen ostdeutschen Städten. Als Antwort auf die Wohnungsprobleme in der DDR in den Siebzigern hat die SED es sich zur Hauptaufgabe gemacht, bis 1990 die Wohnungsfrage zu lösen. Das haben sie geschafft und waren genau mit der Wende fertig. Als ob sie das geplant hätten. In ostdeutschen Stadträndern sind gigantische Plattenbauviertel entstanden, die aber nach der Wende gekippt sind. Wo früher utopisches Modellwohnen war, war plötzlich Dystopie. Rostock-Lichtenhagen ist ein bekanntes Beispiel dafür. Auch im Dreesch herrschte knapp 50 Prozent Leerstand. Das stigmatisierte die Stadtteile. Es war wie eine Abwärtsspirale.Wie war es, zurückzukehren?Ich fand das interessant, weil ich hier groß geworden bin. Ich musste an Didier Eribons Rückkehr nach Reims denken: Wann muss man hier eigentlich weggezogen sein, um nicht dieses Stigma bekommen zu haben und was ist mit den Leuten, die hier geblieben sind? Meine Familie ist 1988 in die Schweriner Innenstadt umgezogen und 1990 nach Hamburg, weil mein Vater dort einen Job bekam. Da war ich sieben. Der Rest der Familie blieb aber in Schwerin. Hier fühle ich mich immer noch zu Hause eigentlich.Was hat sich verändert, wie sieht es heute im Dreesch aus?Der Stadtteil wächst jetzt wieder. Seit vier oder fünf Jahren ziehen mehr Leute hin als weg – vor allem junge Familien. In den Neunzigern gab es einen großen Zuzug aus Russland und der Ukraine. Jetzt gibt es eine neue Welle von Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan, dem Iran und Eritrea. Ich glaube, es gibt viel Potenzial dafür, dass der Dreesch wieder ein idealer Stadtteil wird.Was reizt Sie an der „sperrigen“ Form Dokumentartheater?Theater hat ein großes Problem mit Repräsentation. Wer spielt und Regie führt, entspricht in keiner Weise der wirklichen Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Leute sind zu schön, zu jung, zu blond – zu deutsch. Im Dokumentartheater ist das anders. Man kann Theater mit Leuten aus einer Stadt machen für Leute aus einer Stadt. Wildes Leben kann es nur in Schwerin geben und nicht in Bonn.Warum sind Sie eigentlich nicht Journalist geworden?Mit Cum-Ex zum Beispiel kann das Thema wirklich berühren, wo der klassische Journalismus das vielleicht nicht kann. Wir haben zwar eine andere Reichweite. Aber als Theatermacher genieße ich auch andere Freiheiten. Ich muss nicht so genau sein wie beispielsweise im Wirtschaftsjournalismus. Ich kann klare Urteile fällen und bin durch die Freiheit der Kunst geschützt. Man fragt sich manchmal, wieso die AfD so viel Angst vor dem Theater hat. Die Antwort ist, dass es kraftvoll sein kann.Was werden Sie als nächstes auf die Bühne bringen?Ein Stück zum Gesundheitswesen, in dem es um Korruption geht. Es wird hoffentlich im Lichthof zur Uraufführung kommen. Die Spekulation mit Ackerland ist auch ein großes Thema, das mich interessiert – und vor allem Ostdeutschland betrifft. Investoren wetten darauf, dass durch den Klimawandel Flächen durch den steigenden Meeresspiegel verloren gehen und dadurch teurer werden. Das ist zynisch und pervers.Placeholder infobox-1
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