Der Freitag: Wenn man Putins jüngste Reden anhört, bekommt man den Eindruck, Russland befindet sich mehr im Krieg mit dem Westen als mit der Ukraine. Warum hat der Hauptfeind gewechselt?
Andrej Kortunow: Es ist die offizielle russische Position, dass der Konflikt einer zwischen Russland und dem kollektiven Westen ist. Die Ukraine ist für die russische Regierung nur ein Instrument des Westens. Das ist nichts Neues. Russische Offizielle erklären schon länger, dass der Staat nur durch ein Lebenserhaltungssystem des Westens existiert: Spenden, Militär- und Wirtschaftshilfe. Auch bei Putin sind seine Aussagen eine Weiterentwicklung seiner bekannten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, als er von einem hybriden Krieg des Westens gegen Russland sprach
er von einem hybriden Krieg des Westens gegen Russland sprach.Die USA erhöhen den Druck auf China, um es Russland unmöglich zu machen, westliche Sanktionen zu umgehen. Ist das erfolgversprechend? Die USA sind für China ja ein wichtigerer Handelspartner als Russland.China wird wohl seine vorsichtige Position in Bezug auf den russisch-ukrainischen Konflikt beibehalten. Auf der einen Seite ist es bereit, Russland in der Auseinandersetzung mit den USA zu unterstützen, da Peking seine eigenen Probleme mit Washington hat. Hier kann Russland für China nützlich sein. Aber gleichzeitig haben Sie zu Recht bemerkt, dass das Geschäft der Chinesen stark vom US-Markt abhängig ist. Übrigens hat China auch gute wirtschaftliche Beziehungen zur Ukraine und ist ein bedeutender Investor dort. Deswegen glaube ich schon – ohne den Faktor USA zu unterschätzen –, dass China bereit ist, Russland im Konflikt eindeutig zu unterstützen. Aber die Volksrepublik hat selbst das Problem des Separatismus und steht deswegen immer für die territoriale Integrität. China wird versuchen, Russland dann beizustehen, wenn es nicht mit hohen politischen oder wirtschaftlichen Risiken verbunden ist.Stark diskutiert werden im Westen aktuell russische Kernwaffen. Putin hat sich ja mehrfach dazu geäußert. Sind die Befürchtungen vieler Leute zu einem drohenden Atomkrieg berechtigt?Wir haben zum Einsatz von Atomwaffen eine Militärdoktrin. Sie können eingesetzt werden, wenn ein Angriff mit Kernwaffen auf Russland erfolgt oder bei Gefahr für die Existenz der Russischen Föderation.Wie wird diese definiert?Die russische Führung muss in dem Moment sagen können, die Existenz unseres Staates ist bedroht – lasst uns Atomwaffen einsetzen. Eine solche Doktrin gibt es bei allen Atommächten. Sie ist ein Mittel der Abschreckung. Das heißt, wenn der potenzielle Gegner die Antwort auf sein Handeln nicht kennt, muss er vorsichtiger sein. Aktuell nähern wir uns einem Konflikt, in dem Atomwaffen eine Rolle spielen.In gewissem Sinne ist die aktuelle Situation komplexer und gefährlicher als die Kuba-Krise vor 60 Jahren. Damals war die Krise an sich vom allgemeinen Verhältnis zwischen der UdSSR und den USA getrennt. Jetzt sind Russland und die Vereinigten Staaten tatsächlich in einen aktiven Konflikt verwickelt. Nicht direkt, aber doch verwickelt. Wo ist die Grenze, ab der US-Hilfe für die Ukraine als direkter Eingriff in den Konflikt wahrgenommen wird? Wo sieht Moskau diese rote Linie? Wir wissen es nicht genau, auch ich nicht. Und genau diese Unsicherheit schafft zusätzliche Risiken. Russland versucht, das zu kontrollieren, was man im politischen Jargon als die „Eskalationsdynamik“ bezeichnet, also die Aktionen der Gegner. Das Konfliktniveau anzuheben, sieht man als Möglichkeit dazu. Und natürlich verstärkt das die Gefahr, dass der Konflikt wirklich zu einem Atomkrieg wird. Ich hoffe, dass in der Konfrontation mit der Ukraine Atomwaffen, auch taktische mit geringer Sprengkraft, nicht eingesetzt werden. Aber die USA und die NATO werden wohl noch stärker als heute in diesen Konflikt eingreifen. So kann eine solche Eskalation nicht komplett ausgeschlossen werden.Eigentlich besteht die Aufgabe der Politik ja darin, keine solche Eskalation auszulösen, sondern das Gegenteil davon zu bewirken. Sie haben selbst kürzlich gesagt, Moskau schließt einen Dialog mit dem Westen und der Ukraine durch die Annexion neuer Territorien aus. Ein Ausschluss für längere Zeit?Auf Deeskalation setzen beide Seiten vermutlich, wenn sie sehen, durch weitere Eskalation nichts mehr gewinnen zu können. Dann eröffnen sich wieder Möglichkeiten. Aktuell scheinen leider beide Seiten zu glauben, dass die Zeit des Konflikts für sie arbeitet, dass sich ihre Position in den nächsten Monaten stärken könnte. So liegt eine Deeskalation aktuell in niemandes Interesse. Auch die russische Seite gibt nur Erklärungen ab, die wie eine Vorbereitung auf einen Waffenstillstand klingen, aber einer Waffenruhe zu eigenen Bedingungen meinen. Dafür haben die ukrainischen Politiker natürlich kein Verständnis. Sie können einen solchen territorialen Verlust nicht ohne weiteres anerkennen. So sind die Parteien, wie ich glaube, entschlossen, die Feindseligkeiten fortzusetzen, um später ihre Verhandlungsposition zu stärken. Das gilt wohl auch für den Westen, da dieser die Ukraine nicht wirklich zu einer Feuerpause ohne Vorbedingungen motiviert. Was wir hierzu von Präsident Selenskyj gehört haben, war vorhersehbar.Also längerfristig keine Verhandlungen?Es kann zumindest Konsultationen zu bestimmten Sachfragen geben: zur Verlängerung des Getreideabkommens, zum Austausch von Kriegsgefangenen, zur Sicherheit des Atomkraftwerks im Kampfgebiet. Sich von bereits geäußerten Positionen zurückzuziehen, ist natürlich sehr schwierig, da sie offiziell sind. Ich fürchte, dass es für eine Vermittlung jetzt verfrüht sein dürfte. Vielleicht aber wissen wir nicht, dass längst vertrauliche Sondierungen zwischen Russland und der Ukraine unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, denen ich viel Erfolg wünschen würde.