Turin war stets die Stadt der Melancholie und der höflichen Gesten. „Solange es Wolken gibt über Turin, ist das Leben schön“, dichtete einst Cesare Pavese. In den Krimiklassikern des Sizilianers Leonardo Sciascia wurden meist die gewissenhaften Carabinieri aus dem Piemont nach Palermo geschickt, um sich dann allerdings gegenüber den mafiösen Strukturen als machtlos zu erweisen. Das Turiner Autorenduo Fruttero & Lucentini dagegen kultivierte in seinen maliziösen Kriminalromanen den norditalienischen Snobismus mit feinsinniger Ironie.
Davide Longos Commissario Vincenzo Arcadipane ist ein Kind des Südens, das im Norden nicht heimisch werden konnte und auf seinen durch und durch piemontesischen Vize Pedrelli mit mildem Spott blickt: „Imme
#8222;Immer pünktlich, nie krankgeschrieben, immer anständig.“Im Fall Schlichte Wut bekommen es Arcadipane und Pedrelli mit einer Schar Jugendlicher zu tun, die auf je eigene Art seelische Blessuren davongetragen haben: Der junge Luca Apostolo soll in der U-Bahn eine ältere Frau zusammengeschlagen haben, anscheinend in einem Akt sinnloser Raserei, denn ihn verbindet nichts mit der braven Kolumbianerin, die als Pflegerin arbeitete und ein bescheidenes Leben führte. Der Junge war maskiert, aber über etliche Kameras kann sein Weg durch die Stadt nachvollzogen werden, auch sein Kampfsport-Kimono ist identifiziert. Luca leugnet, aber die Verhältnisse sprechen gegen ihn: Er kommt aus einer armen zerrütteten Familie, hat mit Drogen gedealt und ist vorbestraft. Er wird verhaftet.Lucas Freundin Clara Marangon, eine Tochter aus gutem Hause, bescheinigt ihm allerdings auf bemerkenswerte Weise den guten Charakter: Er war einer der wenigen Jungen, die freundlich mit ihrem geistig zurückgebliebenen Bruder umgegangen seien. So ein sensibles Mädchen fasst die Polizei mit Samthandschuhen an, ihre Eltern haben Geld und Einfluss, die schicken schnell ihre Anwälte. Außerdem ist Clara schön, noch so einer dieser ungerecht verteilten Vorzüge, was Arcadipane misstrauisch macht: „Schöne Leute, ich hab Geld und scheiß auf dich, oder schön, wir sind doch alle Menschen?“Doch vielleicht macht die einfache Herkunft Luca nicht bloß für die Polizei zum idealen, weil wehrlosen Verdächtigen, sondern zu einem noch viel besseren, weil verachteten Opfer in einer fiesen Intrige. Es könnte das grausame Spiel sein, das sich Jugendliche ausdenken, wenn sie in Wohlstand verwahrlosen. Oder das Manöver eines Ex-Polizisten, der sich Bibelsprüche zitierend zum Tröster von Witwen und Waisen aufschwingt. Oder ein Komplott zur Verurteilung Unschuldiger.Vincenzo Arcadipane gehört zu jenen Ermittlerfiguren, die mehr noch als mit einem Fall damit beschäftigt sind, ihr eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen: 55 Jahre alt, geschieden, von den beiden Kindern entfremdet und genauso von sich selbst. Seine Exfrau begegnet ihm stets mit einem Lächeln, das eher der Grenzziehung dient als der Freundlichkeit. Sie schickt ihn zu einer rabiaten Therapeutin, die über ihn herrscht und straft wie der Zornesengel Ariel. Seine nachlassende Virilität quittiert sie mit plumpem Hohn: „Wieder Probleme mit dem Schöpfungshebel?“Der 1971 geborene piemontesische Autor Davide Longo, der in Turin die Schreibschule „Holden“ betreibt, genießt in den italienischen und deutschen Feuilletons hohes Ansehen. Stets wurden seine Romane, Der aufrechte Mann oder Der Fall Bramard, für ihre kraftvolle Sprache und ihren literarischen Anspruch gelobt. Manche Kritiker fühlten sich gar an Cormac McCarthy oder William Golding erinnert.Wie im Berlusconi-TVDoch das ist absurd hochgegriffen. Zwar spielt Longo in Schlichte Wut tatsächlich sehr schön mit der Idee, dass Menschen versehrt und grausam werden, wenn sie wie Wikingerkönige an einem Ort ohne Licht aufwachsen. Aber seine klugen Beobachtungen und sein lakonischer Stil gehen immer einher mit einem konstruierten Plot, einem artifiziellen Setting und verquerer Psychologie. Als Adept des Kreativen Schreibens setzt Longo eher auf Archetypisches und literarische Zitate als auf glaubwürdige Figuren. Die Erzengel-Therapeutin ist ebenso grotesk überzeichnet wie all die Frauen, die Arcadipane auf ihr Geheiß hin auf einem Datingportal kontaktieren soll. Alles Esoterikerinnen und Emanzen! Hier verbindet sich ein gestriges Frauenbild mit einer machohaften Kraftmeierprosa, die nicht selten ins Vulgäre abrutscht. Man kommt sich vor wie in den Achtzigerjahren im Fernsehen des Silvio Berlusconi. Die Melancholie mag in Davide Longos Turin ihren Platz haben, aber es ist eine der Grobheit.Placeholder infobox-1