Optimale Nahrung Wer Westpakete bekommt, führt womöglich ein Doppelleben: Die Berliner Schriftstellerin Jutta Voigt erzählt in ihren Büchern von Mangel und Verschwendung in der DDR
Auf der vorletzten Seite ihres schmalen Büchleins Wahlbekanntschaften, in dem die Berliner Journalistin Jutta Voigt 47 Kolumnen versammelt, die sie zuvor für die Zeit geschrieben hat, formuliert sie auch so etwas wie ihr Credo. Sie behauptet einem fiktiven Partner gegenüber im Café, dass sie über alles schreibe, „was keine Phantasie verlangt“, weil sie sich nämlich „auf ewig dem Wirklichen verpflichtet“ fühle: „Ich kann mir nichts ausdenken, das war schon im Osten so.“
Also sieht sie anderen zu, schaut genau hin, spürt Laster und Lüste, Frust und Frechheiten auf, um – insbesondere in jener klassischen Schnittstelle von Gesellschaft und Geselligkeit, dem Café – eben „die Gesellschaft in ih
haft in ihrer merkwürdigen Alltäglichkeit zu fassen, den Glanz des Gewöhnlichen aufzuspüren.“Bier und BroilerEin Jahr lang ist die 1941 geborene Autorin durch Berliner Cafés gezogen, jede Woche besuchte sie eine andere Berliner Gegend, eine andere Art von Café, begegnete ein anderem Mensch. Es finden sich Glanzstücke des genauen Blicks und einer Porträtkunst, die in kurzen Strichen ganze Lebensschicksale und Geschichten zu umreißen versteht. Wie im Falle jenes Strausbergs etwa, Mitte fünfzig, einer bekannten Stadtgestalt, dessen Tisch so ausschaut, als halte er sich bereits Stunden hier auf: „Nasse Teebeutel, Zigarettenschachteln, Kippen, Aspirin.“ Auf die Frage der Autorin, was er noch vorhabe: „Ich gehe jetzt nach Hause und lese in der Schiller-Biografie. Das ist wunderbar: ein Idealist und nicht käuflich! Schiller, sagt Strausberg, ist reinigend wie Wofasept, wie eine Seuchenmatte vor dem Schmutz der Zeit. So sehen Genies aus, denke ich, sie stottern, tragen ausgeblichene Jacketts, und leben so vor sich hin.“Ein Glanzstück ganz eigener Art ist das ebenfalls 2005 erschienene Buch Der Geschmack des Ostens, der „vom Essen, Trinken und Leben in der DDR“ handelt. Hier hat man Jutta Voigt at her best. Schreibt die Autorin doch entlang von Bruchstücken der eigenen Biografie nicht zuletzt eine Alltagskulturgeschichte der verflossenen DDR – und zwar eine unterhalb des bewusst gelebten Lebens, die vielmehr in animalisch-frugalen Zonen und Ebenen angesiedelt ist. Sie handelt von Bier (Wernesgrüner) und Broilern, Nordhäuser (Doppelkorn) und Jägerschnitzeln, von der Ernährung zu Hause und dem Sonntagsbraten in der HO-Gaststätte samt jahrzehntelanger leidiger Misepetrigkeit der Bedienung.Kurzum, es geht einmal mehr – und aus wohltuend anderer Perspektive – um jenen spezifischen DDR-Menschen, dessen „idealer Lebenszweck ... Borstenvieh und Schweinespeck“ war. Also auch darum, ein Gesellschaftssystem zu zeigen, dessen seltsam teleologisch diesseitiges Weltbild offenbar die längste Zeit zwar verbaliter mit Marx- und Engelszungen argumentierte, dennoch die Grimmschen Märchen und Sagen weiterspann.Konkret heißt das: „Mangel und Verschwendung“, die zusammenpassten wie zwei linke Latschen, waren die Determinanten des Alltagslebens und zugleich die wahren Existenzialien oder – um mit Schopenhauer zu sprechen – die wirklichen „Brennpunkte des Willens.“ Wenn es schon wenig bis nichts gab und davon noch jede Menge, dann sollte wenigstens der Bauch an und von diesem Wenigen nicht darben – also hinein mit den Kalorienbomben!Essen und Trinken blieben, allen Warnungen der Ernährungswissenschaftler zum Hohn, der stete Lebensmittelpunkt des DDR-Menschen, bis zum bitteren Schluss: „Das Zentralinstitut für Ernährung hatte ausgerechnet, daß in der Republik ‚84.500 Tonnen überschüssiges Fett auf zwei Beinen‘ rumlief. Seit Jahrzehnten mühten sich die Wissenschaftler um die gesunde Ernährung ihrer Landsleute, stellten Pläne für die Gemeinschaftsverpflegung auf, rechneten Kalorien und Vitamine für Werkessen und Schulspeisung aus und entwickelten eintausendsechshundert Richtrezepte für Gemeinschaftsküchen. Sie brachten Diätprodukte unter dem Namen ON – Optimale Nahrung in den Handel. Vergebens.“Ähnlich den Depressiven, die, so weiß Voigt zu berichten, „die innere Leere mit Schokolade, Chips und Buletten zu füllen suchen“, stillten die angepassten DDR-Bürger – und wohl auch die, die – wie die Autorin selbst – lange Zeit noch an den Sozialismus geglaubt haben – die zunehmende Ereignislosigkeit, Langeweile und den Lebenshunger fröhlich mit Essen und Trinken: „Ich und du ein Tellerchen, sind wir zwei Gesellerchen.“ Das Ende des real existierenden Sozialismus – Produkt und Resultat falscher Ernährung? Welche historischen Abgründe mögen sich da auftun.Zum Nachtisch BananeVoigts Deutung klingt ebenso plausibel wie bodenständig: „Wäre die DDR ein Menü gewesen und ich Restaurantkritikerin, hätte ich das folgende gastronomische Urteil abgegeben: Das beste war die Vorspeise. Kraftvoll, originell, vielversprechend. Das Hauptgericht enttäuschte. Unentschieden, langweilig, lauwarm. Nachtisch Banane. Glückshormone auf die krumme Tour.“Auf überaus geglückte Weise verknüpft Voigt historischen Sachverstand mit autobiografischer Erzählung. Herausgekommen ist dabei ein wunderbares Buch, das, sicherlich vergleichbar mit dem ebenso eindrucksvollen Roman Moskauer Eis von Annett Gröschner (Freitag 42/2000), frei von jeder Ostalgie ist und die DDR ohne bloß satirisch-höhnischer Entlarvung in den milderen Glanz des Humors taucht. Es nimmt seine Leser (Ost wie West) auf eine ausgedehnte Erinnerungsreise zu jenen nicht allzu fernen wie seligen Zeiten mit, da die Banane noch eine Hauptrolle im geteilten Deutschland spielte, weil diese „kolossale Südfrucht ... zur Schranke und Brücke zwischen Ost und West“ wurde. „Die Banane“, so Voigt in trefflicher Kürze, „weilte stets unter uns, in corpore oder in Gedanken.“Oder um eine andere, nicht minder ausdrucksstarke Szene zu zitieren: Als anlässlich des 40. Jahrestages der DDR die Autorin die Ehrenmedaille bekommt und nachher dann in einem Lokal einkehrt, taucht eine freundliche Kellnerin mit den aufmunternden Worten auf: „ ‚Eßt erst mal was, Kinder! Roastbeef mit Bratkartoffeln oder Bauernfrühstück?‘ Soviel Freundlichkeit war abnorm. Als sie uns auch noch erlaubte, die Tische zusammenzuschieben und ein paar Stühle zusätzlich ranzustellen, ahnte ich es: Wenn man in einer HO-Kneipe Tische zusammenrücken darf, ist das Ende nahe.“ Sätze von divinatorischer Weitsicht.Wenn man will, kann man Voigts Westbesuch als letzten Teil einer Trilogie lesen, in der sich die Autorin weiter am fortwährenden „Stallgeruch der DDR“ (Wolfgang Hilbig) abarbeitet. Sie tut das aber niemals beinhart und bitterernst, sondern lakonisch, bisweilen komisch und immer mithumoristischem Unterton.Enger noch als in den ersten Büchern schreibt Voigt entlang der eigenen Biografie, erzählt sie Episoden, Ereignisse und Erlebnisse aus einem Leben in Zeiten der Sehnsucht, wie der Untertitel des Bandes lautet. Voigt, die nach dem Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität (unter anderem bei dem Ästhetiker Wolfgang Heise, den sie als „einzig glaubwürdigen Philosoph dieser Universität“ bezeichnet), als Journalistin viele Jahre bei der Wochenzeitung Sonntag, später beim Freitag arbeitete, schildert darin „Alltägliches und Absurdes, Drama und Groteske“ in einem.Jeans und Fenjala Der glückliche Titel Westbesuch erinnert an jene fernen (System-)Zeiten, da die DDR-Bürger vor, aber vor allem nach dem Mauerbau vom Leben in Freiheit und Luxus, vom Bad im westlichen (Waren-)Meer träumten. „Ex occidente luxus“ – täglich per Westfernsehen ins Haus geliefert: ein „Hofgang für die Eingeschlossenen“, „das Werbefernsehen als Abendmahl“.Glücklich, wer alt genug war, um als Rentner endlich in den Westen reisen zu dürfen oder als Reisekader zu demselben Genuss kam, am besten schließlich, wer aus welchen westlichen Ecken und Winkeln auch immer Westpäckchen ergatterte. Die Palette reichte von den Versprechungen des Quelle-Katalogs über 8mal4-Deo und Fenjala-Seife bis zur unvermeidlichen abgetragenen Jeans.Dabei versteht es Voigt, Tragik und Komik, ja, die Aura des Westpakets präzise auf den Punkt zu bringen: „Jedes Ding ein Fetisch, die Probe einer anderen Existenz. Die Dinge von drüben ermöglichen Millionen kleiner Grenzübertritte in östlichen Küchen und Wohnzimmern, zelebriert beim andächtigen Öffnen der Westpakete. ... Wer sich mit Fa-Seife wäscht, riecht nicht mehr nach DDR, wer Mon Chéri mit der Piemontkirsche isst, könnte Sehnsucht nach Frankreich kriegen, wer Kaba kostet, den Plantagentrank, der könnte das Bedürfnis entwickeln, allmorgendlich löslichen Kakao trinken zu wollen. Wer Westpakete bekommt, führt ein Doppelleben, eins in der DDR und eins im Paket.“Die Autorin, die in einem bunten Kaleidoskop noch einmal Jahrzehnte ost- und westdeutscher Mentalitätsgeschichte Revue passieren lässt und schließlich einmal mehr Heinrich Bölls poetologischen Vorsatz beherzigt, wonach Erinnerung unsere Aufgabe ist, bewahrt bei aller Kritik am vormaligen „real existierenden Sozialismus“ dennoch (klammheimliche) Sympathien für die sozialistische Utopie – wobei man oder frau diese gar nicht relativierend als romantische herunterspielen muss!
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