Die europäische Integration war die Antwort auf Krieg und Zerstörung auf unserem Kontinent. Es wäre fatal, wenn dieses integrierte Europa gerade angesichts neuer Ungleichgewichte in der Welt seiner Verantwortung nicht gerecht würde", meinte Kanzler Schröder am 3. April vor dem Bundestag und verwies darauf, dass die EU die NATO in Mazedonien militärisch ablösen werde. Damit stand für viele außer Zweifel, dass die militärische Stärkung Europas eine der Antworten auf die Schlappe gegenüber den USA in Sachen Irak sein sollte - eine Schlappe aus Uneinigkeit, aber auch aus militärischer Schwäche.
Inzwischen schlägt das Pendel zurück, die Einigung auf eine gemeinsame europäische Truppe ist ebenso wenig in Sicht wi
n Sicht wie ein Konsens über die Institution eines europäischen Außenministers. Doch das ändert grundsätzlich nichts daran: Nationen werden häufig in Kriegen geschmiedet. Noch während des Irak-Krieges gingen die amerikanischen Spezialisten für Nation-building in Stellung. Da eine Nation, wie alle gesellschaftlichen Dinge, ein relationales Ding ist, bleibt die Umgebung nicht unberührt. Die USA versuchen, ihre Rolle in der Welt neu zu definieren - und schon sehen sich alle anderen aufgerufen, ihre nationale Außenansicht zu renovieren. Alle großen europäischen Kriege seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatten schließlich den Neu- oder Umbau eines Systems von Nationalstaaten zur Folge oder gar zum Gegenstand. Warum sollte das heute anders sein? Nur weil sich der effektive, nicht verstaubte Nationalismus seit geraumer Zeit hinter der Flagge des Transnationalismus verbirgt? Nur weil bei jedem Schub an nationalistischen Ausbrüchen das angebliche Ende des Nationalstaats beschworen wird?Europa erscheint ja so unverdächtig, ist es doch nicht nur historisch der Gegenpart, ja, das Heilmittel für die zerstörerischen Nationalismen auf dem eigenen Kontinent. Und gebärden sich die europäischen Institutionen nicht jeden Tag als Bändiger der nationalen Eigeninteressen, die stets im Interesse des Gemeininteresses zurechtgestutzt werden müssen? Beweisen die Brüsseler Beamten nicht stets von Neuem, dass sie alles andere sind, nur keine Exekutoren eines europäischen Nationalismus? Und zeigt nicht schon der flüchtigste Blick auf die Entstehung der Nationalstaaten, dass sie gegenüber den Provinzen und kleineren, von ihnen vereinnahmten Staaten, auch nicht anders auftraten und sich auch nicht anders rechtfertigten: gegen die Rückständigkeit, gegen die Krähwinkelmentalität, gegen Eigensinn, gegen die Ungerechtigkeit der Privilegierten, für die Gleichberechtigung der Benachteiligten.Sollte das Deutsche Reich etwa nicht das Ende des Krieges mit Österreich bedeuten und die Preußenkonkurrenz mit Bayern in friedliche Bahnen lenken? Ging mit dem Zwang zur deutschen Nationalkultur nicht das Versprechen einher, aus der Enge der Dialekte geführt zu werden und sie doch beibehalten zu dürfen? - Gewiss, Europa wird kein Nationalstaat wie jeder andere, - sowenig wie ein jeglicher Nationalstaat ist wie jeder andere oder wie die USA ein Nationalstaat wie jeder andere sind. Selbst die nicht enden wollenden Beteuerungen der europäischen Staatschefs, niemals würden sie ihre Eigenstaatlichkeit aufgeben, zählen letztlich nicht viel mehr als die putzigen Schilder "Freistaat Bayern", an denen kein Zoll erhoben wird und keiner den Pass vorzeigen muss.Ich sehe Freunde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Welchen Beweises für die prinzipiell friedfertige und eben jeglichem aggressiven Nationalismus von vornherein abholde Ausrichtung Europas bedürfte es noch, wenn sich einige europäische Völker doch gerade eben gegen den Ausbruch an Egoismus der Supermacht USA erhoben und vor aller Welt widersprochen haben? Schon wahr. Doch warum sollte die Kritik am Krieg des Größeren den Kleineren von seinem Krieg bei anderer Gelegenheit abhalten? Nachdem die erste Hitze des politischen Gefechts verflogen ist, tritt in der Betrachtung der atlantischen Beziehungen Europas Ernüchterung ein.Es ist nicht nur kein Wunder, sondern zudem historisch berechtigt, wenn sich jüngst bei den Demonstranten mit Schildern wie, "BUSH - MÖRDER" oder "NO BLOOD FOR OIL" ein europäisches Gefühl einstellte. Es gibt keine Identität, die sich nicht gegen eine andere bilden würde. Daran ändert keine Beschwörung des atlantischen Bündnisses etwas. Daran ändert auch die Verharmlosung des Nationalismus durch die gängige Auffassung nichts, er bestehe in der Übertreibung einer an sich gesunden nationalen Identität. Europe first, das ist der Kern des Euronationalismus. Er ist jeden Tag, besser: jede Nacht an den Grenzen Europas zu beobachten. Übertreiben kann man nur das, was schon da ist. Der Nationalismus steckt jeder Nation in den Knochen. Zu glauben, in Zeiten der Krise könnte sein "Ausbruch" verhindert werden, ist pure Naivität. Wie war das mit Rostock und Solingen in den Zeiten nach der Wende, als Helmut Kohl beschwor, dass Deutschland seine dritte Staatswerdung "ohne Nationalismus" geschafft habe?In den vergangenen Monaten sind alle Zutaten der Nationwerdung vor unseren Augen zurechtgelegt worden: territoriale Abgrenzung (Türkei-Frage), politische Abgrenzung als Bedingung der Identität (USA-Frage), kulturelle Abgrenzung (Islam), institutionelle Konsolidierung (Verfassung plus Verteidigung). Und schließlich schreiben die Gazetten, die Klartext jenseits des moralischen Diskurses veröffentlichen, wieder über Interessen. Welche Interessen, jenseits großer Worte, verfolgt Europa in Nahost? Diese Frage musste man sich bereits in den vergangenen Kriegen (sind sie vergangen?) stellen: Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan. Wie groß ist die Aufregung darüber, dass eine Reihe von Motiven, welche die Regierung Bush für den Angriff gegen den Irak angab, sich - wie schon vorher vermutet und immer bestritten - als vorgeschoben erwiesen. Wie stand es denn mit den Motiven für die anderen Kriege?Es zeichnet sich ab, dass die Europäer gegen den US-Diskurs vom "alten Europa" eine Schlachtordnung der Worte herstellen, wonach Europa nur Krieg führt, wenn es nicht um Machtinteressen, sondern um Menschenrechte oder ähnlich Hehres geht. Ging es bei den Balkankriegen der neunziger Jahre um nichts als Menschenrechte? Wo war Europa, als Jugoslawien nach Tito zu zerfallen begann? Was haben wir im Kernland der Blockfreien gesucht außer billigem Urlaub an der dalmatinischen Küste? Ist es zu weit hergeholt, darüber nachzudenken, dass die EU in den Jahren, als der Sowjetblock zerfiel, das wirtschaftliche und politische Machtzentrum darstellte, an dem sich die immer stärker gegeneinander arbeitenden Teilrepubliken orientieren mussten? War es etwa nicht so, dass Westeuropa zugesehen hat, wie Jugoslawien unterging, ohne dass eine dem Titoismus vergleichbare Konstruktion für einen Ausgleich unter den entfesselten Nationalismen gesucht worden wäre?Von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Europas wird seit den Balkankriegen gesprochen, denn Nationen werden häufig in Kriegen geschmiedet. Europa hat, nachdem es in die Vorgeschichte dieses Krieges unabweisbar verstrickt war, während dieses Konflikts den Balkankrieg als seinen Krieg definiert. Natürlich ging es auch um die hingemordeten Bosnier oder Kosovaren. Aber es ging ebenso sehr darum, dass die Südflanke eines sich herausbildenden europäischen Staates im Krieg aufzureißen drohte und Europa so reagierte, wie jede Nation reagiert: mit Krieg und Nation-building. Es ging um Menschenrechte, und es ging um Macht. Was tun deutsche Soldaten in Kabul, nachdem dort eine Verfassung verabschiedet werden soll, in denen von Menschenrechten nicht viel die Rede ist? Welche Interessen vertreten die deutschen Soldaten dort? Warum ist kein Politiker in der Lage, diese Interessen jenseits von Formeln wie "Allianz gegen den Terror" auszusprechen? In welches - womöglich europäische - Konzept einer Friedensordnung in Zentralasien ordnet sich die Bundeswehr dort ein? Wo kann dieses Konzept nachgelesen werden? Wann wird es demokratischer Meinungsbildung zur Verfügung gestellt?Helmut Kohl begründete sein europäisches Engagement wiederholt mit dem Hinweis auf die blutigen Ausbrüche von Nationalismus auf dem Balkan. Schon damals konnte man sich wundern, mit welcher Naivität die Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts an den Subjektcharakter der Nation glauben: als komme der Nationalismus aus der Mitte der Nation heraus. Als entstünden Nation und Nationalismus nicht in einem Kräftefeld umgebender Nationen; als hinge nicht alles davon ab, ob die Umgebung ein Land zur Nation provoziert oder deren Nationalismus absorbiert. Was wäre der deutsche Nationalismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts ohne Napoleon? Nichts, fast nichts.In der Perspektive Kohls erscheint die sich eben herausbildende, größere Nation als die Garantie für den Frieden unter den untergehenden Nationen, welche sie hegemonisiert. Europa erscheint, so gesehen, in einem milden Licht, das rasch dem harten Neonlicht der globalen Verhältnisse weicht, wenn die gleiche Frage auf die ganze Welt übertragen wird: Was garantiert eigentlich die Friedfertigkeit Europas nach außen, welche sich gegenüber den aktuellen oder potenziellen Mitgliedern leicht versprechen lässt? Die republikanische Verfassung nach innen ist nur eine der Bedingungen, die Kant für einen "ewigen Frieden" nennt. Dass es keine hinreichende Bedingung ist, haben die USA soeben mehr als deutlich demonstriert. Worauf soll sich der Glaube gründen, dass Europa - diesmal moralisch eben noch einmal fein heraus - nicht bei anderer Gelegenheit, geht es um einen Krieg in seinen Interessensphären, vergleichbar handelt?
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