Bereits 2012, da war er gerade einmal zwei Jahre im Amt, erklärte Viktor Orban die Notwendigkeit eines neuen politischen Systems in Europa. „Gott stehe uns bei“, sagte, er, „dass wir anstelle der Demokratie nicht eine neue Art von politischem System erfinden und einführen müssen, um wirtschaftlich zu überleben."
Zwei Jahre später, im Juli 2014, verkündete der ungarische Regierungschef dann den Tod der „liberalen Demokratie“ und die Ankunft einer neuen Staatsform, die er den „illiberalen Staat“ nannte. Dieser Staat werde grundlegende liberale Werte wie die Tolerierung von Minderheiten und Ausländern oder die Meinungsfreiheit verwerfen.
Und noch ein Jahr später, im Mai 2015, ging Orban noch einen Schritt weiter und behauptete ausdrücklich, „diktatorische Länder“ seien „erfolgreicher als demokratische“.
Hallo Diktator!
Die Reaktion auf diese diktatorische Wende in Europa zeigte sich am anschaulichsten auf dem EU-Gipfel, der im vergangenen Jahr im lettischen Riga stattfand. Hier begrüßte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker Orban scherzend mit einem „Hallo, Diktator!“ und gab ihm einen Klaps auf die Wange. Das Video ist noch immer auf YouTube zu finden, vielleicht wird es eines Tages als als einzigartiges historisches Dokument des Zynismus der europäischen Eliten dienen.
Obwohl spätestens seit 2012, als Orban „einen neuen Typ von politischem System anstelle der Demokratie“ verkündete, klar war, dass Ungarn sich offen in Richtung einer Form von Diktatur oder „illiberaler Demokratie“ bewegt, behandelte das europäische Establishment diese Aussicht als einen Witz.
Zeitraffer.
Im Europa des Jahres 2018 war die Frage nach Diktatur oder „illiberaler Demokratie“ kein Witz mehr. Rechte und populitische Bewegungen wie die AfD in Deutschland oder der Front National (bzw. seit Juni 2018 der Rassemblement Nationale) in Frankreich wollen in den beiden am weitesten entwickelten und politisch bedeutungsvollsten Ländern der EU an die Regierung gelangen. In Österreich und Italien werden Teile der Regierung bereits von rechten und ausländerfeindlichen Kräften gestellt, während die Regierungen in Ungarn und Polen ihre Länder aktiv in „illiberale Demokratien“ verwandeln.
Multikulti is over
Der letzte Beweis dafür, dass die „illiberale Demokratie“ keine Ausnahme mehr darstellt, sondern die Regel ist und nicht so sehr etwas ist, das sich nur in den östlichen und südlichen, sondern auch in den westlichen „Kernländern“ findet, kam schließlich im Juni 2018, als die rechten Innenminister Östereichs, Deutschlands und Italiens in den poetischen Worten des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz eine „Achse der Willigen“ bildeten.
Bei dieser Wortwahl schwingen, beabsichtigt oder nicht, viele dunkle historische Untertöne mit: eine frühere „Achse“ zwischen genau diesen drei Ländern besetzte im Zweiten Weltkrieg weite Teile Europas, mit katastrophalen Folgen für den gesamten Kontinent und seine Bewohner.
Doch was ist die „Achse der Willigen“ ohne Ungarn? Nur einen Monat nach der offiziellen Inauguration der „Achse“, Ende Juli 2018, erklärte Viktor Orban in seiner jährlichen Ansprache an die ethnischen Ungarn im benachbarten Rumänien, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 einen Wandel in Richtung einer „illiberalen christlichen Demokratie“ in der EU bringen könnten, die die Ära des Multikulturalismus und der Einwanderung beenden würde.
Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, lautet daher nicht so sehr, wie die Zukunft Europas aussehen wird. Sie lautet: Was, wenn diese Zukunft bereits angebrochen ist? Was, wenn der „illiberale“ Aspekt der Demokratie nicht nur etwas ist, das diejenigen Regime und Regierungschefs charaktersisiert, die offen für den Kampf gegen liberale Werte eintreten, sondern in den westlichen Demokratien selbst zu einer Realität wird?
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, mehr oder weniger seit dem elften September 2001, hat der „Ausnahmezustand“ aufgehört, eine Ausnahme zu sein. Nach den Terroranschlägen von Paris im November 2015 erklärte die französische Regierung den „Ausnahmezustand“. Um die Franzosen vor der terroristischen Bedrohung zu schützen, verhängte der Staat eine Reihe von ungerechtfertigten Maßnahmen, die die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einschränkten.
Amnesty International zufolge haben die französischen Behörenden zwischen November 2015 und Mai 2017 die Notstandsbefungnisse zum Erlass von 155 Dekreten zum Verbot von öffentliche Versammlungen benutzt – und das zusätzlich zu den Dutzenden von Demonstrationsverboten, die auf Grundlage des ganz gewöhnlichen französischen Rechts ausgesprochen wurden. Sie verhängten auch 639 Maßnahmen, die einzelnen Personen die Teilnahme an öffentlichen Zusammenkünften untersagte. Davon zielten 574 auf Personen, die gegen den Entwurf zur Reform des Arbeitsrechts protestierten. Medienberichten zufolge verhängten die Behörden Dutzende ähnlicher Maßnahmen, um Menschen nach der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 von der Teinahme an Demonstrationen abzuhalten. Mit anderen Worten werden auch friedliche Proteste nicht als Grundrecht sondern als potentielle Bedrohung betrachtet.
Die Ausnahme ist die Regel
Ähnliche Ausnahmezustände waren in jüngster Vergangenheit in verschiedenen europäischen Staaten wie Deutschland, Italien, Spanien, Beligien, dem Vereinigten Königreich und der Türkei in Kraft oder sind es noch immer. Beim G20-Gipfel in Hamburg wurde ein noch nie dagewesener Ausnahmezustand exerziert, in dem im erweiteren Stadtzentrum sogar das Demonstrationsrecht und das Recht, seine ablehnende Haltung zu zeigen (ein demokratisches Grundrecht) außer Kraft gesetzt wurden.
All diese Fälle von Ausnahmezuständen mögen als etwas zeitlich Befristetes erscheinen. Doch die schiere Anzahl von europäischen Ländern, die auf die ein oder andere Weise (von der Terrorismusbekämpfung bis zur Bekämpfung von Flüchtlingen) Ausnahmezustände verhängen, scheinen eine andere Sprache zu sprechen. Die Situation kann eher als die Art von Ausnahmezustand beschrieben werden, wie ihn Carl Schmitt als Recht des Souveräns beschrieben hat, im Namen des „Allgemeinwohls“ gegen die Regeln des Rechtsstaates zu verstoßen. Mit anderen Worten: Um die Verfassung zu schützen, kann die Verfassung ausgesetzt werden. Um die Bürger zu beschützen, werden als erstes ihre Grundrechte wie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ausgesetzt.
Das Konzept des Ausahmezustandes ist so eng mit der deutschen Geschichte zwischen den Weltkriegen verbunden, dass es unmöglich ist, Hitlers Aufstieg an die Macht zu verstehen, ohne zu wissen, wie der Artikel 48 der Weimarer Verfassung ge- und missbraucht wurde. Die letzten Jahre der Weimarer Republik fanden im „Ausnahmezustand“ statt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben weist darauf hin, dass Hitlers Aufstieg zur Macht vielleicht nicht so einfach vonstatten gegangen wäre, wenn Deutschland nicht bereits seit drei Jahren von einer Präsidialdiktatur regiert worden wäre und das Parlament funktioniert hätte. Diese Situation wurde von Schmitt mit der Idee gerechtfertigt, der Präsident handle als „Hüter der Verfassung“. Doch das Ende der Weimarer Republik zeigte tatsächlich das Gegenteil: dass, in den Worten Agambens, eine „beschützte Demokratie“ überhaupt keine Demokratie ist. Stattdessen funktioniert das Paradigma der konstituellen Diktatur als „Übergangsphase, die zwangsläufig zu Etablierung eines totalitären Regimes führt“.
In diesem Licht betrachtet erscheint das jüngst neu erwachte Interesse an der Zeit der Weimarer Republik vielleicht weniger zufällig. Nehmen Sie den Erfolg der beliebten Serie Babylon Berlin, die auf Volker Kutschers Polizei-Thriller über die Dekadenz und den Verfall der späten Weimarer Republik und Deutschlands Abrutschen in den Nazismus beruht. Es kann eine direkte Verbindung zwischen Kokain-Dealern, Pornographen, Nationalisten, dem Organisierten Verbrechen, Straßenkämpfen zwischen Polizei und Arbeitern auf der einen und dem Ausnahmezustand und dem Aufstieg des Nazismus auf dere anderen Seite hergestellt werden. Und wenn wir in die Zukunft zurückkehren: Was, wenn die zwanziger Jahre eine bessere Parallele zu unseren eigenen Zeiten darstellen als die Dreißiger, die heute häufig als Warnung vor künftigen Entwicklungen herangezogen werden? Was, wenn der Ausnahmezustand, der in den letzten Jahren von Weimar verhängt wurde, eine entscheidende Lektion für unsere Zukunft in sich trägt?
Um zu verstehen, wie liberale Demokratien sich in illiberale verwandeln können, wie eine demokratische Ordnung in einen Ausnahmezustand mit verheerenden Folgen wie Diktatur und Konzentrationslager übergehen kann, genügt es nicht, die gewöhnlichen rhetorischen Gynmastikübungen zu praktizieren, die illiberale Demokratien als etwas darstellen, das der „offenen Gesellschaft“ entgegensteht, die nach dem „Ende der Geschichte“ erreicht werden sollte. Wir leben nach dem Ende der Geschichte.
Als Fareed Zakaria vor zwanzig Jahren in Foreign Affairs einen Essay mit dem Titel The Rise of Illiberal Democracy veröffentlichte, behauptete er, dass die westliche liberale Demokratie sich möglicherweise nicht als Ziel des demokratischen Weges erweisen könnte, sondern lediglich als eine von vielen möglichen Ausfahrten.
Nicht auf den „Weltgeist zu Pferde“ setzen!
Was Zakaria und andere liberale Kritiker der „illiberalen Demokratie“ allerdings nicht taten – und noch immer nicht tun – ist die Möglichkeit zu bedenken, dass die illiberale Demokratie der liberalen sehr viel näher stehen könnte, ja die Kehrseite derselben Medaillie, der „Demokratie“ nämlich sein könnte. Was, wenn die Wahl zwischen liberaler und illiberaler Demokratie in Wahrheit gar keine ist und nur eine Scheinalternative darstellt? Was, wenn es sich nicht um Gegenteile handelt, sondern die beiden sich stattdessen gegenseitig verstärken?
Oder, um es in Begriffen zu formulieren, die heute Konjunktur haben: Was, wenn der Aufstieg der heutigen „illiberalen Demokratien“ rund um den Globus – von Orban bis Trump, von Salvini bis Kurz – stark von der Unfähigkeit des (neo)liberalen Establishments abhängt, den Finanzcrash von 2007/8 so zu bewältigen, so wie die liberalen Eliten des vorangegangenen Jahrhunderts nicht verstanden, dass ihre Reaktion auf die Finanzkrise von 1929 den illiberalen Kräften, dem Nazismus und Faschismus geholfen hat, an die Macht zu kommen? Oder um es einfacher zu formulieren: Was, wenn in derselben Weise wie die (neo)liberale Hillary Clinton keine Antwort auf den „illiberalen“ Donald Trump war, die aktuelle Antwort auf Europas Krise der (liberalen) Demokratie nicht dieselbe ist wie die alte (neo)liberale Antwort, die gegenwärtig von Emmanuel Macron repräsentiert wird, der von deutschen Philosophen wie Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk als „Weltgeist zu Pferde“ bezeichnet wird (wie Hegel Napoleon nannte)?
Um zu verstehen, dass die „illiberale Demokratie“ der Demokratie bereits in ihrem Ursprung eingeschrieben ist und dass ein Wechsel von einer „illiberalen Demokratie“ hin zum Ausnahmezustand oder sogar zum Bürgerkrieg bereits dem Konzept von Demokratie inhärent ist, müssen wir in die Anntike und zum Attischen Modell zurückgehen.
Das allerdings nicht, um zu sehen, wie eine Blaupause der Demokratie aussehen sollte. Ganz im Gegenteil sollten wir zur Attischen Demokratie als dem Ursprung des Problems zurückgehen.
Athen ist die Wurzel allen Übels
In seinem bahnbrechenden Werk, das seit 2017 auf Englisch unter dem Titel Isonomia and the Origins of Philosophy vorliegt, zeigt der japanische Philosoph Kojin Karatani auf überzeugende Weise, dass die Attische Demokratie als Modell uns niemals erlauben wird, die Probleme zu lösen, mit denen die moderne Demokratie es zu tun hat. Da sie eine Fusion aus Liberalismus und Demokratie darstellt, ist sie nicht in der Lage, den grundlegenden Widerspruch zwischen Gleichheit und Freiheit aufzuheben. Strebt sie nach Freiheit, steigt die Ungleichheit. Strebt sie nach Gleichheit, wird die Freiheit beschnitten. Die liberale Demokratie ist nicht in der Lage, über diesen Widerspruch hinauszukommen. In diesem Sinne ist es Karatani zufolge von größerer Bedeutung, in Athen den Prototyp des Problems zu erkennen, anstatt sich auf die Attische Demokratie als ersehntes Modell der Demokratie im 21. Jahrhundert zu beziehen.
Während die Attische Demokratie versuchte, die Gleichheit unter den Menschen über die Umverteilung des Reichtums zu vergrößern, blieb sie gleichzeitig in der Homogenität ihrer Mitglieder verwurzelt. Nicht nur, dass sie Heterogenität ausschloss – vielmehr wurde sie verwirklicht, indem man sich auf die interne Ausbeutung (von Sklaven und im Land lebenden Ausländern, den sogenannten Metöken) und externe Ausbeutung (die Kolonisierung und Unterwerfung anderer poleis) verließ. Mit anderen Worten war die Attische Demokratie bereits untrennbar mit der Art von Nationalismus verbunden, die an Benedict Andersons berühmtes Konzept der modernen Nation als einer “imagined community”, einer „imaginierten Gemeinschaft“ erinnert.
Anstelle der Attischen Demokratie, und hierin liegt Karatanis wesentlicher Beitrag nicht allein zur Kritik der liberalen Demokratie, sondern auch der traditionellen Philosophiegeschichte (die er auf den Kopf stellt), sollten wir zur ionischen isonomia (ἰσονομία: “Gleichheit politischer Rechte, vom Griechischen isos, “gleich” und nomos, “Gesetz”) zurückgehen, zur Philosphie der sogenannten Vorsokratiker. Die werden häufig noch immer als diejenigen abgetan, die sich lediglich mit „Naturphilosophie“ beschäftigen und nicht ernsthaft über ethische und politische Fragen nachdachten. Das begann der traditionellen Philosophiegeschichte zufolge erst mit Sokrates.
Dies, schreibt Karatani, sei ein Fehler. Der Ursprung der griechischen politischen Philosophie – und mit ihr der Demokratie – müsse stattdessen vielmehr von Ionien aus betrachtet werden. Sokrates sei auch nebenbei gesagt nicht der erste, der sich mit ethischen Fragen beschäftgte. Sein Denken müsse eher als "Übergang“ von der vorsokratischen zur attischen Philosophie betrachtet werden und verdanke viele seiner Ideen und Werte den ionischen Philosophen. Sokrates sei vielmehr „der letzte“ gewesen, „der versuchte, das ionische politische Denken wiederzubeleben.“
Von Ionien lernen
Aber warum war, fragt Karatani, das politische System Ioniens (die isonomia) gleicher und freier als in der Attischen Demokratie? Zunächst einmal legten die Ionier keinen großen Wert auf Verbindungen zu ihrem Ursprungsort. Das führte zu einer Kultur, die anders als das Mutterland frei war von tiefer Verbundenheit mit den Traditionen der Stammesgesellschaft. Die Städte Ioniens waren von Kolonisten geprägt, die nicht die Tradition der Clans und Stämme mit sich brachten. Die Siedler waren von den Fesseln und Einschränkungen der Verwandtschaft befreit. In der polis von Ionien herrschte eine nomadische Existenz, die der Stammesgesellschaft vorausgegangen war und die nun die Form des Außenhandels und der Produktion annahm. Aber das beschränkte sich nicht auf den Austausch von Waren, sondern auch auf den von Erfahrungen und Kultur in einem Raum, den man am besten den Mittelmeerraum nennt: Thales etwa, der als der erste Philosoph gilt, arbeitete zum Beispiel als Bauingenieur in Ägypten. Viele andere Philosphen der vorsokratischen Ära waren entweder von Asien oder Afrika beeinflusst.
Anders als die ionische isonomia baute die griechische polis auf gesellschaftlichen Schichten auf, die sich vom Haushalt (oikos) zum Klan (genos) zur Bruderschaft oder Verwandtschaft (phratry) bis hin zum Stamm (phylai) erstreckten. Athen war keine Stammesgesellschaft mehr, doch die Stammestraditionen waren immer noch lebending und intakt. Selbst mit der Transformation der Menschen in einen demos führte dies nicht zur Bildung der Art von polis, die auf einem autonomen Gesellschaftsvertrag zwischen Individuen basierte. Im Gegenteil war selbst im Zeitalter des Perikles, das häufig als der Zenit Athens angesehen wird, die Bürgerschaft durch Verwandtschaft determiniert und Ausländer (Menschen aus anderen poleis) waren ausgeschlossen.
Anstatt einfach nur der polis anzugehören, betrachteten die Ionier sich selbst als Angehörige der cosmpolis. Und es ist genau diese Art von politischer Philosophie, die bereits bei den vorsokratischen ionischen Philosophen gefunden werden kann. Zum Beispiel kann bereits für Demokrit Ethik nicht aus dem Inneren der polis kommen, sondern nur aus der cosmopolis.
In bester historisch-materialistischer Manier stellt Karatani fest, dass die direkte Demokratie Athens unmittelbar abhängig von der Beherrschung und Plünderng der anderen poleis gewesen sei. Diese imperalistische Expansion stellte die Grundlage der Attischen Demokratie dar und war eng mit der Sklaverei verbunden. Zur gleichen Zeit war die Zivilgesellschaft von einem tiefen Klassenkonflikt zerrissen, denn der Großteil der Bürger war arm.
„Demokratie in Athen“, sagt Karatani, „bedeutete die Machtübernahme durch die Mehrheit und die Umverteilung des Reichtums durch Besteuerung des Adels und der wohlhabendsten Mitglieder. Wie zu erwarten, traf dies auf Widerstand seitens des Adels und der Elite. Diese Art von Konflikt erlaubt keine Lösung, denn er versucht das Problem durch Umverteilung des Reichtums zu lösen, ohne die Ursache der Lücke zwischen Reich und Arm in der Zivilgesellschaft und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstehen konnte, zu thematisieren. Was den Anschein erweckt, dieser interne Klassenantagonismus würde gelöst, ist die imperialistische Politik, die eine Quelle des Reichtums in der Ausbeutung fremder Länder sucht.“
Am Anfang war der Bürgerkrieg
Aus diesem Grund war die Demokratie in ihrem Ursprung selbst durch stasis (Bürgerkrieg) gekennzeichnet, einem zunehmenden Kampf zwischen oligarchischen und demokratischen Fraktionen, der während der Jahre des Peleponnesischen Krieges eine besonders virulente Form annahm. In seiner Geschichte des Peleponnesischen Krieges beschreibt Thukydides detailliert die Erfahrung der stasis in the griechischen poleis, zum Beispiel 411 vor unserere Zeitrechung in Athen oder 427 in Corcyria. Sie war durch Angst und Verwirrung charakterisiert, bloßes Überleben und Gewalt, doch auch durch Misstrauen und Verzweiflung, die zu weiterer Auflösung jeder Form von Solidarität unter den Menschen führten. Kurzgesagt reduzierte sich der demos zwangsläufig auf selbstfokussierte und isolierte Individuen. Das, was Thukydides beschreibt, kennen wir heute unter den Begriffen „Fake News“: „die gewöhnliche Bedeutung von Wörtern in ihrem Verhältnis zu den Dingen wurde nach Gutdünken verändert“ und „Populismus“: „die Verbindung des Blutes war schwächer als die Verbindung der Partei, denn der Parteigänger war eher dazu bereit, etwas zu wagen, ohne Einwände zu erheben; denn solche Vereinigungen werden nicht in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen zum Wohle der Allgemeinheit eingegangen, sondern dienen der egoistischen Selbstverherrlichung, die den herrschenden Gesetzten entgegensteht“.
Zeitraffer.
Könnten wir Thukydides Beschreibung der stasis nicht gebrauchen, um unsere gegenwärtige politische Situation zu verstehen, von „Fake News“ bis zum Trumpismus? Was, wenn es exakt diese stasis des Thukydides ist, die eine bestimmende Eigenschaft unserer eigenen liberalen Demokratien darstellt, die sich in „illiberale Demokratien“ verwandelt haben? Man könnte sagen, dass sogar Thukydides selbst den Peloponnesischen Krieg als einen Bürgerkrieg zwischen den Griechen betrachtete, das heißt, einen Krieg im Inneren. Was, wenn wir in gleicher Weise die gegenwärtige Ausbreitung „illiberaler Demokratien“ rund um den Globus nicht als Feind von „außen“ verstehen müssen, sondern als Feind im Inneren der „liberalen Demokratie“ selbst?
Für den italiensichen Philosophen Giorgio Agamben muss die stasis in dem Verhältnis zwischen dem oikos, der Familie oder dem Haushalt, und der polis, der Stadt, verortet werden. Es handelt sich dabei nicht einfach nur um ein Verhältnis zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, sondern vielmehr um die Politisierung des oikos und die „Ökonomisierung“ der polis. Der oikos wird durch die stasis politisiert und in die polis integriert. Politik muss daher, sagt Agamben, als ein Kraftfeld verstanden werden, dessen Extreme der oikos und die polis darstellen. Zwischen ihnen markiert der Bürgerkrieg die Schwelle, über die das Unpolitische politisiert und das Politische ökonomisiert wird.
Klasse gegen Klasse
“Die Attische Demokratie ist vielleicht der Ort“, sagt Agamben in seiner Erforschung der Ursprünge der stasis, “wo diese Spannung für einen Augenblick ein prekäres Gleichgewicht findet. Im Laufe der darauffolgenden politischen Geschichte des Westens wird die Tendenz, die Stadt zu entpolitisieren, indem sie in einen Haushalt oder eine Familie verwandelt wird, die von Blutsbeziehungen oder auf Grundlage rein ökonomischer Tätigkeiten regiert wird, sich mit anderen, spiegelbildlich entgegengesetzter Phasen abwechseln, in denen alles Unpolitische mobilisiert und politisiert werden muss. In Übereinstimmung mit der Vorherrschaft der ein oder anderen Tendenz werden sich auch die Funktion, Situation und Form des Bürgerkrieges verändern.”
Mit anderen Worten: Was, wenn der gegenwärtige Aufstieg der „illiberalen Demokratie“, der die Welt in einen Haushalt oder eine Familie transformiert, „regiert durch Blutsbeziehungen oder rein ökonomische Tätigkeiten“, nicht nur eine Abweichung der „liberalen Demokratie“ darstellt, sondern das Ergebnis ungelöster Widersprüche, die innerhalb der Demokratie selbst gegenwärtig sind?
Sinn und Zweck dieser kurzen Prolegomena zu einer Kritik der „illiberalen Demokratie“ ist Folgendes: Wenn wir nicht in der Lage sind, uns mit der Tatsache zu konfrontieren, dass die moderne liberale Demokratie sowohl auf interner als auch auf externer Ausbeutung und Exklusion basiert, die in sich selbst ein schon seit langem bestehender Klassenkampf ist („Es herrscht Klassenkampf“, sagte Mr Buffet, „aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die diesen Kampf führt und ihn gewinnt), dann sind wir dazu verurteilt, in einer Welt der „illiberalen Demokratie“ zu leben, die sich nun schnell in eine Welt der stasis verkehrt, mit verheerenden Folgen für die gesamte Menschheit – und den Planeten selbst.
Der einzige Weg, um einem wahren demokratischen Egalitarismus nahezukommen, dem, was die ionischen Philosophen isonomia nannte, besteht darin, den falschen Gegensatz zwischen „liberaler“ und „illiberaler“ Demokratie zu überwinden.
Kommentare 10
Danke für den Beitrag !
"Gott stehe uns bei“, sagte, er, „dass wir anstelle der Demokratie nicht eine neue Art von politischem System erfinden und einführen müssen, um wirtschaftlich zu überleben."
Orban will also die von Angela Merkel praktizierte marktkonforme Demokratie als
Zwischenschritt zur Diktatur überspringen und direkt zur Diktatur übergehen,
um das neoliberale Modell aufrechtzuerhalten.
Orban ist eben nicht so perfide wie Angela Merkel, sondern plump.
Orban hat Gott auf seiner Seite, Merkel hatte die Moral und das feundliche
Gesicht. Daran erkennt man Ideologen.
++ Was, wenn der gegenwärtige Aufstieg der „illiberalen Demokratie“, der die Welt in einen Haushalt oder eine Familie transformiert, „regiert durch Blutsbeziehungen oder rein ökonomische Tätigkeiten“, nicht nur eine Abweichung der „liberalen Demokratie“ darstellt, sondern das Ergebnis ungelöster Widersprüche, die innerhalb der Demokratie selbst gegenwärtig sind? ++
Ein bisschen viel Binsenweisheit, finde ich. Sicherlich ist es so, dass die Demokratie in unterschiedlicher Kostümierung auftritt , je nach Situation. Aber das war nun auch nichts Neues für mich. Dös is Dialektik.
++ Sinn und Zweck dieser kurzen Prolegomena zu einer Kritik der „illiberalen Demokratie“ ist Folgendes: Wenn wir nicht in der Lage sind, uns mit der Tatsache zu konfrontieren, dass die moderne liberale Demokratie sowohl auf interner als auch auf externer Ausbeutung und Exklusion basiert, die in sich selbst ein schon seit langem bestehender Klassenkampf ist („Es herrscht Klassenkampf“, sagte Mr Buffet, „aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die diesen Kampf führt und ihn gewinnt), dann sind wir dazu verurteilt, in einer Welt der „illiberalen Demokratie“ zu leben, die sich nun schnell in eine Welt der stasis verkehrt, mit verheerenden Folgen für die gesamte Menschheit – und den Planeten selbst.++
Also, das mit dem Klassenkampf hat mich schwer erschüttert. Das wusste ich nicht, dass schon seit langem Klassenkampf herrscht. (kleiner Scherz :-))Wie hieß denn der Kumpel, der das konstatiert hat. Jetzt müsste mir nur noch jemand erklären, zwischen wem der überhaupt besteht. In der Vergangenheit bestand der ja auch schon immer. Der hatte ja sogar die Form des Konflikts zwischen ganzen Ländern angenommen.
Jetzt aber: "Das Proletariat" gibts nicht mehr, jedenfalls nicht in der homogenen Form. Und das zerfällt in einzelne Gruppen mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen und Lebenslagen. Ich weiß nicht, ich weiß nicht.
Eine Klasse der "Reichen" kenne ich auch nicht. Es ärgert mich schon lange, wenn von "den Reichen" so als Feindbild fabuliert wird. Es gibt ja nicht mal mehr "Kapitalisten" in der Reinform - es sei denn, man rechnet die mittelständischen Betriebe mit ein. Und wenn denen die Pleite droht, macht die Arbeiterklasse ja sogar richtig opferreiche Anstrengungen, damit ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben und die weitere Ausbeutung gesichert ist. Die streiten dann dafür, dass der Betrieb nicht zu macht, dass er in ihrer Region bleibt usw.
Nix Klassenkampf. Es gibt Aktionäre, es gibt Unternehmensvorstände und globale Finanzierungsgesellschaften und Finanzhaie, wer soll denn da nun niedergerungen werden und wie? .
Selbst eine Bankenrettung ist hin und wieder sogar ein sozialer Akt, je nachdem.
Und ich habe auch nicht verstanden, warum ich in welcher Lage nicht bin.
Anmerkung: Ein bisschen was von advocatus diaboli ist auch in dem Beitrag und auch ein bisschen verarbeitete Wolfang Pohrt Lektüre, der mir gerade den Horizont erhellt.
++ Der einzige Weg, um einem wahren demokratischen Egalitarismus nahezukommen, dem, was die ionischen Philosophen isonomia nannte, besteht darin, den falschen Gegensatz zwischen „liberaler“ und „illiberaler“ Demokratie zu überwinden. ++
Wie denn bitte? Da fängt doch überhaupt erst der linke Anspruch an. WIE DENN?
Wer wirklich etwas zu sinn und zweck des "bürgerlich demokratischen modells" erfahren will, muss die "Constitutional Papers" (von Madison, Grant u.a.) lesen. Diese versammeln bekanntlich die überlegungen der US-amerikanischen elite, wie denn die neu-unabhängigen USA (1776) so politisch organisiert werden können, dass a) der föderalstaatliche verbund zusammengehalten und b) die vermögende minderheit vor der politischen herschaft der armen mehrheit dauerhaft geschützt werden könnte. Herausgekommen ist die "repräsentative wahl-demokratie", die zunächst in Europa als 'schlechteste aller regierungsformen' verteufelt, aber später als funktional für kapitalistische verhältnisse gern übernommen wurde.
Allerdings wussten schon die "gründerväter", dass es eines gewissen masses an sozialem ausgleich und mitbestimmung bedarf, damit das oligarchisch-demokratische system funktional bleibt. Und genau diesen minimalkonsens hat die neo-liberale wende, auf deren höhepunkt in den 1990ern die durch und durch neo-liberal ausgerichtete EU (so wie wir sie heute kennen) geschaffen wurde, irgnoriert. Heute sind die verheerungen des neo-liberalismus unübersehbar, die zahl der verlierer geht in die milliarden und die milliardäre werden stündlich um milliarden reicher. Das kann "demokratisch" nicht mehr aufgefangen werden; denn dazu war das system nicht gedacht - es sollte lediglich die soziale spaltung kaschieren, aber dazu muss diese spaltung "beherrschbar" bleiben, was sie heute längst nicht mehr ist...
Ich würde den Schein-Gegensatz zwischen liberaler und illiberaler so zwar in ähnlicher Weise konstatieren, im Gegensatz zu Herr Horvat allerdings weniger falsche philosophische Grundlagen als Ursache benennen als vielmehr das praktische wie theoretische Versagen jener Mehrheit, die »objektiv« ein Interesse an einer Veränderung der Situation hätte.
Es ist zwar richtig, dass alle Ableger der liberalen Ideologie (letztlich also auch der illiberale) sich mehr oder weniger auf das griechische (d. h. athenische) Demokratiemodell berufen. Als Markstein eine weitaus wichtigere, aktuellere Priorität genießt jedoch ein viel jüngeres Datum: 1789. Am Abarbeiten der 1789 auf die Tagesordnung gerückten Fragen bemühen sich – auf die ein oder andere Weise – liberale Freihandels-Befürworter ebenso wie ihr alter historischer Gegner, das konservativ-reaktionär-autoritäre (und meist zusätzlich klerikale) Spektrum. Ebenfalls in diesen Kontext einsortiert ist die jüngste der drei großen Richtungen – die auf Gleichheit und Brüderlichkeit (+ Schwesterlichkeit) versierte politische Linke aller Schattierungen.
Die Phobie, die (handels)liberalen Freigeister und Kosmopoliten ebenso einzuhegen und zu unterdrücken wie sozialemanzipatorische Bestrebungen von unten sind folgerichtigerweise das einigende Band, dass letztlich alle bürgerlich-reaktionären Strömungen umschließt. Die Handlungen und taktisch-strategischen Volten, die daraus resultieren, mögen unterschiedlich sein. Der (neo)liberale Strang beispielsweise ging unterschiedliche Bündnisse ein: Die einen unterstützten den Autoritäten Bismarck, die anderen – gute Beispiele sind hier die aktuellen neoliberalen Politikexekutoren Merkel, Juncker oder auch Hillary Clinton – möchten die bürgerliche Demokratie (bei Beibehaltung der ungleichen Eigentumsverhältnisse) zumindest in ihren Grundzügen intakt halten. Ebenso kann sich der Liberalismus auch nach rechts orientieren. Gutes Beispiel hier: der verschärfte Wohlstandschauvismus à la FDP, Merz, Spahn, der CSU oder auch vom wirtschaftsliberalen Flügel der AfD.
Die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten wiederum haben es nie geschafft, sich dauerhaft als Alternative zu diesen wahrhaft griechischen Sirenenklippen zu etablieren. Ein Teil versuchte mit den bürgerlichen (später dann auch zumindest mit einem Teil der Rechtsautoritären) zu fraternisieren. Der andere Teil errichtete ein erziehungsdiktatorisches Regime, welches sich schließlich ebenfalls nicht als von Dauer erwiesen hat. Letztlich unerfolgreich war die Linke speziell in der letzten Dekade – der von Beginn der ersten Weltwirtschaftskrise 1928/29 bis heute. Gelang nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst der Aufbau eines veritablen Wohlstandsstaats, brach dieser unter der Attacke der Neoliberalen seit 1975 zunehmend zusammen.
Die zweite Krise ab 2008/2009 hat diesen Zustand lediglich verschärft. Hinzu kam, dass die Linke nach 1989/90 kein überzeugendes Gesamtkonzept mehr liefern konnte. Der sogenannte »Dritte Weg« der Blair- und Schröder-Sozialisten hat sich als das herausgestellt, was er auch war: eine neoliberale Zumutung – in ihrer desillusionierenden Bedeutung ähnlich desaströs wie das Einknicken der Sozialisten vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Im Moment ist allerorten eine Phase des Suchens nach neuen Rezepten zugange. Als derzeit erfolgversprechendste Option hat sich der Linkspopulismus herausgestellt – eine Melange, die in zahlreichen unterschiedlichen Varianten auftritt (zuletzt etwa der der französischen Gelbwesten) und sich vor allem auf die Frage praktischer Zugriffe auf die Macht kapriziert hat. Insgesamt wird das vermutlich nicht reichen. Was fehlt, ist eine konkrete Bestimmung neuer linker Fernziele (der relativ Kommunitarismus wäre m. E. hier ein guter, noch unverbrauchter Stichwortgeber, ebenso Gramscis Theorien der kulturellen Hegemonie) und eine (plausible) Strategie, wie sich die von Lenin ebenso wie von den Volksfronten falsch gestellte »Machtfrage« positiv auflösen ließe.
Einige Gedanken dazu:
Illiberale Demokratie heißt immerhin, dass die Rechte die parlamentarisch-legalistische Regierungsmethode der Liberalen übernommen hat (also nicht mehr auf einen autoritären Staat, die Wiederherstellung der Monarchie oder worauf auch immer hinauswill) -nicht aber die Ziele des Liberalismus. Natürlich nicht, ein Konservativer kann kein Liberaler sein et vice versa.
Das liberale Menschenbild des Homo Oeconomicus und das politische Ziel des Liberalismus, nämlich die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die Regelung aller Beziehungen über den Faktor Geld sind vollkommen konträr zum Denken der Rechten (oder der Konservativen, 95% der Rechten sind Konservative), die Menschen nicht als Geldsammler, sondern als Seelen sehen, die auf der Erde auch nicht als Individuen leben (der liberale Freiheitsbegriff ist ein Singular...), sondern in Bindungen und in Kollektiven leben, die nicht ausgedacht sind, sondern vorhanden, auch wenn der liberale Monadismus sich damit schwertut (Familie, Heimat, Nation, Kulturkreis etc.).
Eine politisch-philosophische Denkrichtung in den USA, die es jedenfalls als BEgriff nicht nach Europa geschafft hat, ist der Kommunitarismus, der dem Liberalismus mit seinen materialistischen Engstirnigkeiten schon in den 1970er Jahren den Wettkampf angesagt hat.
Im Grunde sind die europäischen Rechten vom Tage sehr wesentlich Kommunitaristen, die sich freilich aus Gründen inszenierter Verruchtheit in das Gewand der Konservativen Revolution kleiden, mit dem Zweck, die rituellen Antifareflexe der staunenden Linken zu triggern, was die Leute, die diese leid sind, effektiv nach rechts treibt, und außerdem die ja in Wahrheit selbst illiberalen Linken mit den Überresten des Liberalismus in einer Looserkoalition der Gegensätze verheiratet. Wer Opposition ist, steht heute rechts.
Immerhin bewirkt der Begriff illiberale Demokratie, dass sich die Linke vom Liberalismus (seinen Denkhorizonten, nicht seiner Regierungsmethode) ebenfalls verabschiedet. Dieser Artikel da oben ist so gesehen eine Dehnübung.
"Mit anderen Worten: Was, wenn der gegenwärtige Aufstieg der „illiberalen Demokratie“, der die Welt in einen Haushalt oder eine Familie transformiert, „regiert durch Blutsbeziehungen oder rein ökonomische Tätigkeiten“, nicht nur eine Abweichung der „liberalen Demokratie“ darstellt, sondern das Ergebnis ungelöster Widersprüche, die innerhalb der Demokratie selbst gegenwärtig sind?"Kurz: Ja. Lang: Das Problem, dass die liberale Demokratie hat, ist neben der Fokussierung auf die Parteien, wie sie auch in der attischen Demokratie von Thukidydes beschrieben wird, das Zusammenfallen der Exekutive und der Legislative. In diesem Beitrag, wie auch teilweise in der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema wird die Gewaltenteilung leider zu oft außer Acht gelassen und dabei haben doch schon die Väter dieser davor gewarnt, dass wenn Legislative und Exekutive "in einer Hand" sind, es keine Demokratie mehr sein kann:
John Locke, 1690, „Second Treatise of Government“, § 143
„[...]And because it may be too great a temptation to human frailty, apt to grasp at power, for the same persons, who have the power of making laws, to have also in their hands the power to execute them, whereby they may exempt themselves from obedience to the laws they make, and suit the law, both in its making, and execution, to their own private advantage, and thereby come to have a distinct interest from the rest of the community, contrary to the end of society and government[...]“
Montesquieu, 1758, „De L'esprit des Loix“ , XI. 6.
„[...] Lorsque, dans la même personne ou dans le même corps de magistrature, la puissance législative est réunie à la puissance exécutrice, il n'y a point de liberté; parce qu'on peut craindre que le même monarque ou le même sénat ne fasse des lois tyranniques pour les exécuter tyranniquement. [...]“
Immanuel Kant, 1797, „Metaphysik der Sitten“, § 49
„[...]Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein, im Gegensatz mit der patriotischen, unter welcher aber nicht eine väterliche (regimen paternale), als die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu behandeln), sondern vaterländische (regimen civitatis et patriae) verstanden wird, wo der Staat selbst (civitas) seine Untertanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit behandelt, jeder sich selbst besitzt, und nicht vom absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm abhängt. [...]“