Europa und die polnische »Gemütslage«

Kommentar Ein EU-Beitritt gnadenhalber?

Polen hat mit dem Referendum über die EU-Verträge am 8. Juni den entscheidenden Nachweis seiner Europatauglichkeit anzutreten, heißt es derzeit unisono in allen Warschauer Zeitungen. Es sei leider ein äußerst schlechtes Omen, dass die Regierung der Demokratischen Linksunion (SLD) just drei Monate vor der Abstimmung die Bauernpartei (PSL) als bisherigen Koalitionspartner nicht nur an die Opposition, sondern vermutlich auch an das Lager der EU-Gegner verloren habe. Es wird viel über ein Scheitern des Referendums meditiert, viel weniger über Polens subtiles Europa-Verständnis, halten sich doch die Befürworter eines Beitritts besonders an ein Argument: »Wir Polen haben die EU-Aufnahme absolut verdient! In Europa waren wir immer! Europa muss zu uns zurückkehren!«

Für viele meiner Landsleute ein einleuchtendes Postulat, Europa möge seine Rückkehr nach Polen vollziehen, nicht Polen die seine nach Europa. Wahrscheinlich wird das manchem Leser in Deutschland merkwürdig erscheinen: Ist doch dieses, unter den zehn künftigen Neumitgliedern größte Land (38 Millionen Einwohner) immer noch ein Kandidat, der sich um die EU-Aufnahme bemüht. Noch ist eine Mitgliedschaft nicht bis ins Letzte besiegelt. Die deutsche Regierung hat Warschau - ungeachtet der Unterschrift von Ministerpräsident Leszek Miller unter die Ergebenheitsadresse an George Bush - ihre Unterstützung nicht entzogen, auch wenn dort natürlich Emotionen denkbar sind, die unsere edle Einbildung, Europa müsse zu uns kommen, sehr ambivalent erscheinen lassen. Die polnische Politik weiß schließlich ganz genau, dass kein Weg in die EU an Deutschland vorbei führt. Viele Polen haben daher den Eindruck - und das mag ihr Votum am 8. Juni nicht unbeeinflusst lassen -, es gäbe den Beitritt nur gnadenhalber zu deutschen Bedingungen. Aber von »Gnade« kann in unserer Wahrnehmung überhaupt keine Rede sein. Berücksichtigt man die von vielen Westeuropäern, darunter den Deutschen, missverstandene »Gemütslage« der meisten meiner Landsleute, wird sehr schnell plausibel, weshalb deren Erwartung lautet: Europa hat nach Polen zurückzukehren.

Es gibt dazu eine einleuchtende historische Begründung - im 19. Jahrhundert waren die damaligen Großmächte in ihrem Bestreben vereint, das 1795 endgültig dreigeteilte polnische Königreich nie wieder als selbstständigen Staat auferstehen zu lassen. Im 20. Jahrhundert war Polen mehrmals Opfer einer im Grunde genommen verräterischen Politik Deutschlands und der Westmächte: 1926, als in Locarno die Nachkriegsgrenzen von 1918 im Westen Europas als unantastbar garantiert wurden, die östlichen dagegen nicht; im September 1939, als Polens westliche Verbündete Frankreich und England den überfallenen und dann zum vierten Mal aufgeteilten polnischen Staat in Stich ließen; 1944, als die gleichen Verbündeten 72 Tage tatenlos dem Warschauer Aufstand zusahen - und schließlich 1945, als Polen beim Handel innerhalb der Anti-Hitler-Koalition der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen wurde.

Das so geprägte Geschichtsbild, mit dem in Polen mehrere Generationen groß geworden sind, bildet den Stoff für ein gewissermaßen zwiespältiges Europa-Verständnis. Man ist stolz auf die eigenen Traditionen in Europas Vergangenheit, geformt von schrecklichen Erfahrungen, trotzdem absolut prowestlich eingestellt und neidisch auf die mutmaßlich in sattem Wohlstand lebenden EU-Bürger. Seit dem Solidarnos´c´-Aufbruch von 1980/81 sehen sich diese Auffassungen um ein weiteres »Argument« bereichert: Polens Auflehnung gegen den Kommunismus habe zum Fall der Mauer und Zusammenbruch der Sowjetunion geführt. So denken in Polen nicht nur die »Hinterwäldler«. Auch Präsident Kwasniewski ließ Ähnliches verlauten, als er im Dezember 2002 Premier Miller, vor dessen Reise zum EU-Gipfel nach Kopenhagen, an die großen polnischen Verdienste erinnerte. Fazit: In der »Soll-und-Haben-Bilanz« sei nun der Westen, nicht zuletzt Deutschland, an der Reihe.

Selbstverständlich geht die Weltfremdheit nicht so weit, dass Polens sogenannte Eliten tatsächlich glauben, vorzugsweise mit moralischen Argumenten in der realen Welt punkten zu können. Wer aber in Berlin oder Paris meinen sollte, der Ruf »Europa zurück nach Polen« sei abwegig oder gar anmaßend, wird die Menschen zwischen Oder und Bug nicht überzeugen können, dass eine »neue Zeit« angebrochen ist.

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