Europas nächstes Desaster

Krise Schon bald könnten Investoren wieder gegen Italien wetten. Dort schwelt die Wut, resultierend aus der ökonomischen Misere
Ausgabe 47/2016
„Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Italiener … und das Kolosseum
gleich mit!“
„Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Italiener … und das Kolosseum gleich mit!“

Foto: Filippo Monteforte/AFP/Getty Images

Florenz hat den Euro-Kater. Dabei war man der Gemeinschaftswährung hier eigentlich weit voraus: Schon im 13. Jahrhundert prägten die Florentiner den fiorino d’oro, eine Art europäischer Leitwährung, die bis zum 16. Jahrhundert den Handel mit dem Nahen Osten und dem Rest Europas erleichterte und den Aufstieg wie die ganze Pracht Florenz’ befeuerte. Ihn tauschten und verliehen toskanische Banken in der Geburtsstunde des italienischen Kapitalismus; jede Kirche, jeder Palazzo erzählt noch davon.

Heute aber arbeitet man hier mit der rhetorischen Brechstange daran, Italien aus dem gefühlten Korsett des Nachfolgers des Fiorino, des Euro, zu befreien. Die toskanischen Banken, allen voran die Banca Monte dei Paschi di Siena, und ihre notleidenden Kredite sind zum Mühlstein am Hals der chronisch stagnierenden italienischen Wirtschaft geworden: Die Aktie der Monte dei Paschi hat in den letzten zehn Jahren mehr als 99 Prozent ihres Werts verloren.

Mag man in Deutschland die Eurokrise weitgehend aus den Augen verloren haben, mögen Konjunktureinbruch, taumelnde Banken, steigende Arbeitslosigkeit immer weiter in die Ferne gerückt sein: Hier, in Italien, ist die Krise nicht vorbei, und es schwelt und rumort die Wut, die dieser ökonomischen Misere entsteigt.

In Florenz, auf der Piazza Santa Croce, steht am vorvergangenen Samstag der Chef der italienischen Rechts-außen-Partei Lega Nord, Matteo Salvini, vor 14.000 Menschen. Salvini zetert und poltert wie gewohnt und zieht vor allem gegen die Regierung von Ministerpräsident Matteo Renzi vom Leder. Der Mann hat es geschafft, seine Lega Nord von einer sezessionistischen Regionalpartei des Nordens zur gesamtitalienischen Rechtspartei nach Vorbild des Front National von Marine Le Pen umzubauen, mit der ihm eigenen Rhetorik aus wüsten Beleidigungen und vulgären Einschüben.

Hierher nach Florenz hat er eigentlich eingeladen, um für das „Nein“ beim Verfassungsreferendum am 4. Dezember zu werben. Tatsächlich aber geht es Salvini und seinen Anhängern um viel mehr: Die Lehre aus Trumps Sieg sei, so Salvini, „dass wir gegen alles und gegen alle gewinnen können: Gegen die Bankiers, gegen die Lobbyisten, gegen die Medien!“ Dies von dem Mann, der darauf drängt, Berlusconis Nachfolge als Anführer der italienischen Rechten anzutreten. Vor allem aber, und das ist mittlerweile eines der Steckenpferde Salvinis, ruft er: „Wenn wir an der Macht sind, wird der Euro eingemottet und die Europäische Union von Grund auf überholt!“

Damit illustriert Salvini die derzeitige Stoßrichtung des Chauvinismus in Italien, der sich vor allem aus dem Gefühl speist, wegen des von Brüssel und Berlin auferlegten Spardiktats zu darben. Welch giftige Blüten aber solch eine Ahnung treibt, zeigt sich im Anschluss an die Kundgebung auf der Piazza Santa Croce: Es ist schon dunkel und eisig kalt, als Salvinis Unterstützer den Heimweg antreten.

„Die Rothschilds!“

Ein älterer Herr, ein Vermessungstechniker aus Bergamo, wartet mit Bekannten auf den Bus, der ihn an Gegendemonstranten vorbei zurück in den Norden bringen wird. Ein voller Erfolg sei die Kundgebung gewesen, sagt er, und endlich gebe es mit Salvini mal jemanden, der sagt, was Sache ist. Italien müsse sich wieder erheben, dürfe nicht länger kleingehalten werden, von ausländischen Mächten, und den Rothschilds, die alles daransetzen würden, Italien zu schwächen: Das alles sei Teil eines Plans, um sich die großen Firmen, Italiens nationale Reichtümer unter den Nagel zu reißen. Der Mann hat Arbeit, ein kleines Unternehmen für Asbestentsorgung, aber wenn die Lebenshaltungskosten steigen und die Löhne nicht mithalten, wie soll denn jemand für drei Euro die Stunde arbeiten und damit eine Familie ernähren? Überhaupt: Der Euro und der Stabilitätspakt und Merkel, „e il suo Terzo Reich”, Merkel und ihr Drittes Reich, sie alle seien schuld daran, dass Italien nicht vom Fleck kommt. Aber jetzt, jetzt werde die Rechnung serviert, der Gegenangriff laufe, Trump und Brexit hätten das vorgemacht.

Das ist die verschwörungstheoretisch und antisemitisch verbrämte Innenperspektive der wirtschaftlichen Krise, die in Italien zur Normalität geworden ist: Das Land hat es immer noch nicht geschafft, das 2007 ausgebrochene Desaster hinter sich zu lassen, die Wirtschaft schwächelt nach wie vor. Italiens Wachstumsraten kommen über einen Prozentpunkt pro Jahr nicht hinaus, so prognostiziert es die Europäische Kommission auch für die nächsten drei Jahre. Dabei hat die Industrie ihr Produktionsniveau vor der Krise noch lange nicht wieder erreicht, die Arbeitslosigkeit liegt bei rund zwölf Prozent, die Schuldenlast bleibt unvermindert hoch.

Der US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman teilt die Interpretationsmuster für die wirtschaftliche Entwicklung Italiens in zwei mögliche Lager ein: Italiens Schicksal in der europäischen Währungsunion könne man wahlweise lesen als Illustration der Konstruktionsfehler des Euro, als Drama einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik, bei der die von der EZB allen aufgezwungene Geldpolitik keinen glücklich macht und sich Ungleichgewichte verschärfen, statt sich auszugleichen.

Oder die Lesart, wie sie in Deutschland Konjunktur hatte und immer noch hat, als Parabel der Bestrafung wirtschaftspolitischer Sünden, bei der Italien für seine budgetäre Verantwortungslosigkeit und fiskalische Prasserei mit Austerität und Haushaltsdisziplin zu büßen hat.

Jedenfalls ist das Ansehen des Euro, bei seiner Einführung 2002 noch größtenteils enthusiastisch begrüßt, seither schwer beschädigt worden. Denn die Gemeinschaftswährung entpuppte sich als währungspolitische Zwangsjacke. Wohl hat Italien anfänglich von deutlich niedrigeren Zinsen auf Staatsanleihen und Kredite profitiert, aber zugleich wurde dem Land jede Möglichkeit genommen, in der Krise geldpolitisch gegenzusteuern, etwa die Währung abzuwerten, wie es Italien vor 2002 so oft und so wirkungsvoll getan hatte.

Salvini ist dabei nicht der Einzige, der auf der Klaviatur des Anti-Euro-Ressentiments spielt, auch die Fünf-Sterne-Bewegung des Komödianten Beppe Grillo liebäugelt immer wieder mit dem Euro-Austritt. Es droht eine Sogwirkung des Euro-Bashings, denn eines ist klar: Mit einer Fortsetzung des Sparkurses, mit proeuropäischer und Pro-Euro-Politik könnten hier bald keine Wahlen mehr zu gewinnen zu sein.

Schlimmer als Griechenland

Deswegen ist es auch folgerichtig, wenn US-Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sein pessimistisches Szenario, wonach Italien über kurz oder lang aus dem Euroraum austreten werde, nicht auf einer Verschlechterung der Staatsfinanzen bis hin zur Zahlungsunfähigkeit aufbaut. Stattdessen prognostiziert Stiglitz, dass immer mehr Italiener den Euro mehr als Fluch denn als Segen wahrnehmen würden, bis ihnen ein Austritt günstiger erscheine als ein verlängertes Siechtum innerhalb des Euroraums. Die deutsche Euro-Kassandra Hans-Werner Sinn schlägt in einem Interview mit der Welt genau in dieselbe Kerbe: Italiens Unternehmen seien im Euroraum nicht wettbewerbsfähig, und Italien habe „keine messbaren Anstrengungen unternommen, wieder wettbewerbsfähig zu werden“, weswegen ein Austritt nun immer wahrscheinlicher werde.

Man muss sich das vergegenwärtigen: Nach Jahren der Austerität und des Sparens unter dem Stabilitäts- und Wachstumspakt stabilisieren sich allein die Stagnation und die Schuldenlast auf hohem Niveau. Schlimmer noch: In diesem Oktober hat Italien zum ersten Mal Griechenland beim Sentix-Index der Wahrscheinlichkeit des Austritts aus dem Euro überholt. Laut Sentix liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Italien in den nächsten zwölf Monaten aus dem Euro austritt, inzwischen schon bei etwas mehr als zehn Prozent.

Gewiss, diese Zahl beruht lediglich auf den abgefragten Meinungen von etwa 1.000 Investoren, aber genau hierin liegt für Italien ja schon Gefahr genug: Wenn es sich abzeichnet, dass Italiens Schieflage und die daraus erwachsenden politischen Verwerfungen eher zunehmen werden denn schwinden, wenn Investoren in London, Frankfurt oder New York dann beginnen, genau darauf zu wetten, könnte eine derartige Prognose zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.

Das aber, und ein etwaiger Euro-Ausstieg Italiens, wäre ein Desaster – davon ist Maurizio Lunghi überzeugt. Der Generalsekretär des linken Gewerkschaftsbundes CGIL für die Region Emilia-Romagna empfängt in seinem Büro, gelegen im Zentrum von Bologna. Lunghi sitzt an einem roten Formica-Tisch aus den 1970ern, hinter ihm hängt ein Nachdruck des Vierten Standes von Giuseppe Pellizza da Volpedo: Überbleibsel eines Italiens, das nicht mehr existiert, aus dessen Trümmern ein neues aber noch nicht entstanden ist.

Lunghi resümiert über Italiens schon lang andauernde Krise: „Eigentlich ist es keine Krise mehr, sondern fast ein Jahrzehnt der tiefgreifenden strukturellen Veränderung der italienischen Wirtschaft und Gesellschaft, der ganzen produktiven Industrie. Die wichtigste Frage für uns ist dabei, wohin diese Entwicklung führen wird und wie in dieser Veränderung neue Arbeitsplätze entstehen könnten.“

Natürlich gebe es in Italien, vor allem in den Regionen des Nordostens, der Emilia-Romagna, der Lombardei, auch Inseln des Wachstums, vor allem im Export. Aber der Großteil des produktiven Sektors bestehe aus kleinen Unternehmen mit weniger als zehn oder 15 Angestellten, von denen viele gegen die Konkurrenz aus Osteuropa und Asien chancenlos seien.

Viele Firmen hätten es verschlafen, rechtzeitig in die Aus- und Weiterbildung zu investieren, in die Modernisierung ihrer Produktion. Und heute würden sie sich schwertun, neue Produkte auf den Markt zu bringen oder ihre bestehenden so zu verbessern, dass sie wettbewerbsfähig wären, weil es für sie immer noch sehr schwierig ist, an Kredite zu kommen.

Ein fataler Kreislauf: Die Banken leiden darunter, dass ihre Schuldner ihre Kredite nicht zurückzahlen können. Deshalb aber finden kleine und mittlere Unternehmen nur schwer Kredite, selbst wenn ihre Auftragsbücher voll sind, was dann wieder auf die Banken zurückwirkt.

Was aber könnte Italien aus der Abwärtsspirale herausreißen? Einer der oft wiederholten Topoi über die Malaise des Landes ist ja jener vom zu starren Arbeitsmarkt. Hier sollte 2014 Renzis „Jobs Act“ Abhilfe schaffen, indem der Kündigungsschutz gelockert und im Gegenzug Arbeitsverhältnisse von graduell zunehmender Arbeitsplatzsicherheit geschaffen würden. Das Ganze unterfüttert mit zehn Milliarden Euro an Steuererleichterungen für die einstellenden Unternehmen als Anreiz über die letzten drei Jahre hinweg.

In den Augen Lunghis hat das Rezept nicht den gewünschten Erfolg gehabt: „Einfach nur die Steuerlast der Arbeitgeber querbeet zu senken, ohne zu schauen, wo wirklich investiert werden müsste, um Wachstum zu schaffen, das hat diese Maßnahmen einfach verpuffen lassen.“

Überhaupt befände sich Italien schon seit vielen Jahren in einer Entwicklung hin zu immer mehr Flexibilisierung, Prekariat, zu Werkverträgen, die nur wenige Monate dauern und immer wieder erneuert werden. Trotzdem beträgt die Jugendarbeitslosigkeit italienweit derzeit 37,1 Prozent, mit Spitzen von über 50 Prozent in Regionen wie Kalabrien, Sardinien oder Sizilien.

Lunghi sorgt sich, dass der Wahlsieg Trumps die chauvinistischen Tendenzen in Italien noch verstärken könnte: „Solange Merkel sich allen Kursänderungen verschließt“, sagt er, würden die „Sirenen des Nationalismus“ immer lauter singen.

An der Entwicklung Italiens lässt sich ablesen, welche Folgen das Festhalten der EU an einem fast ausschließlichen Fokus auf Budgetdisziplin, Austerität und Schuldenabbau in ihrer Peripherie zeitigt. Natürlich war Italien vor dem Eintritt in den Euro kein Boomland, und seine Misere ist nicht allein durch den Stabilitätspakt bedingt. Aber es sind die sozialen Folgen des Aufeinandertreffens solcher Politik mit den realen Gegebenheiten, die hier am Ende das ganze Projekt der europäischen Gemeinschaftswährung und der Einheit Europas bedrohen.

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Geschrieben von

Pepe Egger

Ressortleiter „Wirtschaft“ und „Grünes Wissen“

Pepe Egger ist Redakteur für Wirtschaft, Grünes Wissen und Politik. Er hat in Wien, Paris, Damaskus und London studiert und sechs Jahre im Herzen des britischen Kapitalismus, der City of London, gearbeitet. Seit 2011 ist er Journalist und Reporter. Seine Reportagen, Lesestücke und Interviews sind in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. 2017 und 2019 wurden seine Reportagen für den Henri-Nannen- bzw. Egon-Erwin-Kisch-Preis nominiert. 2017 wurde Pepe Egger mit dem 3. Platz beim Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Redakteur beim Freitag.

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