Lexikon Kastanien sind die Stars der Saison: Die Rosskastanie kann man als Waschmittel nutzen, dabei ist sie doch vom Aussterben bedroht. Was Streichholzmännchen mit Mord zu tun haben und wer die erste Kastanie aus dem Feuer holte. Unser Lexikon
Anthropomorphismus Es ist eine schamlose kulturelle Aneignung im Gange. Simone und die Kita-Frösche besingen fröhlich den Kastanienmann. Sie fordern schon die Kleinen zur Anthropomorphisierung von Natur auf. Die prall glänzenden, noch leicht feucht sich anfühlenden Früchte werden rücksichtslos aus ihren Stachelschalen gebrochen und dann wie böse Vampire mit Holzpflöcken gepfählt. Sie beginnen sofort zu mumifizieren. In vielen Sprachen der Welt muss sich die Kastanie höhnischen Missbrauch mit ihrem Namen gefallen lassen. Ein weibliches rotbraunes Pferd heißt im Englischen „Kastanienmähre“. Wen man nötigt, die Kastanien aus dem Feuer zu holen (➝Fabel), der wird bedauert. Wer sie hineinwarf, hat nichts zu bef
edauert. Wer sie hineinwarf, hat nichts zu befürchten. Das Schicksal der Maikäfer mahnt. Sie wurden zu Bäckern und Schornsteinfegern erklärt. Bis sie verschwanden. Den Kastanienbäumen entzieht man die Früchte und überlässt ihr Laub den Motten. Stoppt das Anthropozän auf seinem Vormarsch. Lasst die Kastanien liegen, wo sie hinfallen. Bastelt doch Männchen aus Marzipankartoffeln. Michael SuckowCCastaño Santo Der älteste aller Bäume in der Provinz Malaga ist ein Kastanienbaum, der nicht nur alt, riesig, sondern dazu auch noch heilig ist. Der „Castaño Santo“ in der Sierra de las Nieves soll etwa 1.000 Jahre alt sein. Sein Umfang am Boden beträgt stattliche 13 Meter – in manchen Quellen ist sogar von zwanzig Metern die Rede. Man müsste das mal selbst überprüfen, doch es ist recht beschwerlich, ihn zu besuchen. Zwischen den Dörfern Monda und Las Vegas steht er in etwa 700 Metern Höhe – zwischen Steineichen, Korkeichen und Macchia im Flussgebirge Hoyo del Bote.1985 erklärte ihn die andalusische Landesregierung zum Naturdenkmal. Unter seinen Zweigen soll Ferdinand II. von Aragón, genannt „der Katholische“, 1501 eine heilige Messe zum Erntedankfest abgehalten haben. Jener Ferdinand also, der mit seinem Alhambra-Edikt für die grausame Verfolgung und Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel verantwortlich war. Doch dafür kann der Castaño Santo ja nichts. Marc Peschke FFabel Die Redensart „für jemanden die Kastanien aus dem Feuer holen“ stammt aus einer Fabel von Jean de la Fontaine (➝ Anthropomorphismus). In Der Affe und die Katze treten die Tiere als Gaunerpaar auf. Sie sehen, wie Esskastanien geröstet werden. Der Affe bringt die Katze dazu, diese aus dem Feuer zu holen. Er preist ihre Geschicklichkeit, das Kunststück schadlos zu vermögen. Während sie sich dabei jämmerliche Verbrennungen zuzieht, verspeist der Affe die Beute, ohne sie zu teilen. Die Katze hat das Nachsehen, sie wurde das Opfer ihrer eigenen Eitelkeit. Auch die Redewendung, „sich die Pfoten verbrennen“ gelangte in den allgemeinen Sprachschatz. Ins Englische ging „cat’s paw“ als Bezeichnung für einen Handlanger ein. Laut einer Variante beruht die Fabel auf einer wahren Begebenheit, bei der ein Affe eine Katze als Schürhaken benutzte. Tobias PrüwerGGenderfragen Sie sollten auch bei den so beliebten Bastelarbeitenmit der Frucht der Kastanie nicht außer Acht gelassen werden. Dies wurde mir in der heiteren Runde einer Geburtstagsfeier eingeflüstert. Wo ist der weibliche Anteil bei den Kastanienmännchen? Die Frucht ist weiblich, aber kaum wird daran schöpferisch gearbeitet, ist es Essig mit der weiblichen Variante. Wo sind sie, die Frauen? Müssen sie zu anderen Baumfrüchten ausweichen? Vielleicht zur deutschen Eiche oder der Nuss? Handarbeit mit Nuss und Eicheln könnte doch ein besonders weiblich konnotiertes Tätigkeitsfeld sein. Es entstünden Eichelfrauchen (mit erotischem Touch). Der Kastanienmann trat übrigens bereits im Krimi in Erscheinung. Typisch männlich. Ein dänisches Werk dieses Genres – inzwischen auch verfilmt (➝ Nordic Noir) – trägt diesen Namen. Die Kastanienbastelei wird jeweils nach brutaler Untat an den Orten des Geschehens hinterlassen und verkörpert die Grausamkeit des Täters auf dem Weg zu Rache und Vergeltung. Vielleicht fehlte dem bösen Kastanienmörder nichts als ein Eichelfrauchen. Magda GeislerKKastanienstraße Nach 1.758 Folgen, Cliffhängern und Sonntagsgefühlen war am 29. März 2020 Schluss: Die Lindenstraße lief das letzte Mal über den Äther. Die ARD hatte der Dauerserie den Hahn abgedreht. Inspiriert wurde der Erfinder Hans W. Geißendörfer von der britischen Serie Coronation Street. Was 1985 als Flop startete, spielte sich in die Realität der melancholischen Sonntags-BRD. Ernüchterung und das Gefühl des wenig schmeichelhaften Spiegelbilds des wirklich wahren Lebens breiteten sich aus. Dramen spielten sich ab in den Wohnungen, die nur aus Pappmaché bestanden, und in den Außenkulissen, die nie bewohnbar waren. Alles nur Fassade. Dennoch bewarben sich Zuschauer, in frei werdende Wohnungen einziehen zu wollen, und Joachim Luger alias Hans „Hansemann“ Beimer wurde auf offener Straße beschimpft, weil er in der Serie Mutter Beimer verließ. Ein Teil der Handlung spielte in einer der beiden Querstraßen zur Lindenstraße. Im Gegensatz zu den Wohnungen waren diese Orte real bespielbare Sets innerhalb der Außenkulisse. Kennen Sie noch das Café Bayer, das Reisebüro Ehrlich-Reisen oder Murats Bioladen? Wo tanzten die Bewohner zu Silvester ins neue Jahr, wo hielt der Bus vor dem Akropolis? Genau: In der Kastanienstraße. Jan C. BehmannNNordic Noir Schlimm zugerichtete Leichen, bei denen der Täter jeweils ein Kastanienmännchen zurückgelassen hat, davon lebt der Roman von Søren Sveistrup, der auch das Drehbuch für die Krimiserie Kommissarin Lund – Das Verbrechen verfasste. Der Kastanienmann ist seit 2018 in 28 Sprachen übersetzt worden. Die gleichnamige Serie ist bei Netflix ab 2021 zum Renner geworden. Mit haarsträubenden Bildern beginnt es: Auf einem abgelegenen Bauernhof ist 1987 fast eine ganze Familie ermordet worden. Im Keller findet der Polizist Kastanienmännchen (➝ Genderfragen), bevor es ihn selber trifft. Als dreißig Jahre später auf einem Spielplatz bei Kopenhagen die Leiche einer jungen Frau mit abgetrennter Hand entdeckt wird, ahnen wir einen Zusammenhang. Sowieso leben Detektivgeschichten vom Spiel mit unseren Vermutungen. Doch Skandinavien-Krimis, inzwischen mit dem Etikett „Nordic Noir“ versehen, spielen vornehmlich auch mit unserem Erschrecken. Wir blicken in Abgründe: Könnte nicht überall im Dunkeln jemand lauern, der sich für irgendein Trauma rächen will? Kastanienmännchen sind da besonders gruslig, weil wir sie mit Kinderbasteleien im sonnigen Herbst in Verbindung bringen. Andererseits: Horror dient dem Stressabbau, wie Studien bewiesen haben. Irmtraud Gutschke RRheuma In der linken Tasche meines Mantels sind derzeit drei kleine, in der rechten eine große, die kleinen Kastanien sind aus dem Hof des Hauses, in dem ich wohne, die große ist aus Budapest, von der Budaer Seite des Donauufers. Das hilft gegen Rheumatismus, behauptete jedenfalls mein Urgroßvater Andreas, der selber immer eine in der Tasche trug. Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe, seinen Brauch zu übernehmen, es ist lange her. Und bis heute hatte ich nie überprüft, was dran ist. Die wenig überraschende Recherche im Netz ergibt: Nichts! Lediglich Auszüge aus der Rosskastanie werden bei Schwellungen, Venenleiden und anderen Krankheiten eingesetzt. Kinder- und Aberglaube fallen in der Kastanie bei mir also in eins. Mit meinem Urgroßvater war es übrigens auch so: Er kam mir als Kind so alt vor, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass er sterben würde, wo er doch schon so lange, ich erst so kurz auf der Welt war! Schließlich starb er doch, sehr sanft, mit fast 98, ich war acht. Und mir wird klar: Ich trage die Kastanien gar nicht gegen Rheumatismus in der Tasche, sondern in der Hoffnung auf ein langes Leben und einen freundlichen Tod. Beate TrögerSSammeln Die kleinen, im Kindergarten gebastelten Streichholzmännchen trugen die Enttäuschung schon in sich. Die Kastanienleiber schrumpften, und spätestens an Weihnachten war ihr Ableben besiegelt. Einübung in eine Männerwelt, die uns noch blühte. Kastanien wie auch ölige Bucheckern und mehlige Eicheln füllten beim jährlichen Sammeln unsere Taschen. Was es dafür gab, weiß ich nicht mehr. Und Rösser, die die Kastanien gefressen hätten, gab es auch nicht mehr auf den Straßen. In der DDR kannte man diesen Versorgungskreislauf auch. Nachhaltige Verwertungsketten, diesseits und jenseits der Mauer. Ulrike BaureithelStreichhölzer Pferde, Kühe, eine Zwerggiraffe oder eine echte, wenn besonders lange Cheminee-Streichhölzer zur Hand waren. Aus Kastanien konnte ein veritables Bestiarium entstehen. Allerdings auf wackligen Beinchen, je nachdem, wie tief in die Früchte gestochen werden konnte, um die Hölzchen hineinzustecken. Später entwickelte sich ein gewisser Ehrgeiz, für Playmobilfiguren einen fahrbaren Untersatz zu montieren. Die Räder waren die Kastanien, die Chassis bestand aus der Streichholzschachtel.Selbstvergessenes Basteln in einem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Marc OttikerWWaschen Selbstversorgung macht vor Kastanien nicht halt. Man kann sie etwa zu Wärmekissen vernähen und als Mittel gegen Hausschädlinge anrühren. Neueste Mode ist ein Rezept (➝ Rheumatismus), die Naturmurmeln zu umweltfreundlichem und preiswertem Waschmittel zu verarbeiten. Wie die aus Indien importierten Waschnüsse enthalten heimische Rosskastanien sogenannte Saponine – beide gehören zu den Seifenbaumgewächsen. „Sapo“ ist Lateinisch für „Seife“. Diese Bitterstoffe schäumen in Flüssigkeit auf. Dazu sammelt man eine Handvoll Früchte und reinigt sie von möglichem Dreck. Die mit scharfem Messer kleingehackten Kastanien werden für mehrere Stunden in Wasser eingelegt, bis die Flüssigkeit milchig wird. Das zeigt an, dass die Seifenstoffe ausgelöst sind. Nun gießt man durch ein Tuch oder Sieb die Flüssigkeit ab und fängt sie auf – ab damit in die Wäsche. Das Mittel sollte man nur frisch verwenden, weil es sonst zu miefen anfängt. Wer größere Mengen herstellen will, sollte die Kastanien trocknen und nur nach Bedarf gehäckselt zu frischem Sud verflüssigen. Tobias PrüwerZZerfall Kleines Insekt, große Wirkung: Erst bekommen die Blätter gelbe Stellen, dann werden sie braun und fallen ab. Schuld ist die Rosskastanienminiermotte, auch Blatt-Tütenmotte genannt, ein winziger Falter, nicht größer als drei Millimeter. Erstmals hat man sie 1984 in Mazedonien entdeckt. Ein Biologe hat damals Proben mit nach Linz gebracht. Bei der ersten Massenvermehrung 1990/91 wird inzwischen nicht ausgeschlossen, dass Tiere aus Linz entkommen sind und einen Sprung von 1.000 Kilometern in Richtung Mitteleuropa geschafft haben. Sei es, wie es sei: Die Insekten breiten sich rasant aus. Besser als Pestizideinsatz wäre es, die abgefallenen Blätter zu ➝ sammeln und zu vernichten, und das nicht erst im Herbst. Schwierig, so viele Kastanienbäume wie es gibt. Irmtraud Gutschke