Evolutionäres Zufallsereignis

EUGENISCHE ASPEKTE DER GENTECHNIK Lotterie der Natur oder genetische Selbstbestimmung?

Gentechnik revolutioniert die Medizin, unser Menschenbild und unsere Gesellschaft. Diese Wissenschaftlern und Bioethikern gemeinsame Einschätzung beruht auf den Möglichkeiten, die die Entschlüsselung der genetischen Information der Menschen bietet: Gentests, Gentherapie, gezielte Herstellung von Arzneimitteln und Impfstoffen, und in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht sogar neuer Organe. Die Spannbreite der Anwendungen reicht von individueller Nutzung, zum Beispiel von Gentests auf krankheitsbedingende Gene, bis hin zur Bereitstellung der genetischen Information ganzer Länder zu Forschungszwecken und Medikamentenentwicklung, wie es derzeit in Island und Estland geschieht. Dieser revolutionäre Charakter der modernen Medizin wird nahezu einhellig anerkannt - kaum überbrückbare Unterschiede herrschen aber bei der Bewertung der Situation.

Die Nachricht von der fast vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Genoms war noch in aller Munde, als sich einer der profiliertesten Initiatoren dieses Projektes, James Watson, mit der Forderung zu Wort meldete, dieses Wissen zu nutzen, "wann immer das möglich ist, sofern wir damit gesündere und klügere menschliche Wesen schaffen". Ein Sturm der Entrüstung von kirchlicher und politischer Seite folgte, und auch Vertreter der Humangenetik legten vehement Einspruch ein. Watsons Äußerungen konnten aber nicht einfach beiseite geschoben werden, immerhin stammen sie von einem der berühmtesten Naturforscher des 20. Jahrhunderts, der 1953 zusammen mit Francis Crick die Struktur des Erbmaterials entdeckt hatte. Die Kritiker verwiesen auf sachliche und ethische Probleme der genetischen Zukunftsvisionen - es handle sich um ein historisch diskreditiertes eugenisches Programm, Watsons Versprechungen seien angesichts realer Misserfolge oder mangelnden Wissens haltlos, die angebliche Freiwilligkeit sei eine Farce, die Privatsphäre der Menschen werde verletzt, es werde zu Diskriminierungen kommen und andere Argumente mehr.

Etwas sehr Ähnliches hatte sich drei Jahre zuvor ereignet, nachdem Anfang 1997 bekannt geworden war, dass man mit dem Schaf Dolly erstmals ein Säugetier geklont hatte. Den weltweit geäußerten Befürchtungen und Horrorvisionen trat wenig später eine Gruppe bedeutender Wissenschaftler und Philosophen entgegen. Die Unterzeichner sahen im Klonen von Tieren und Menschen keine unüberwindbaren ethischen Probleme und forderten größte Anstrengungen, um Freiheit und Integrität der wissenschaftlichen Forschung zu gewährleisten. Von den 31 Persönlichkeiten, die den Aufruf unterzeichneten, kamen zwölf aus den USA und zehn aus der Europäischen Union, sowie aus verschiedenen anderen Ländern von Kolumbien und Brasilien bis zu Norwegen, Rußland, Kanada, Australien, Indien und Bangladesch. Ein deutscher Wissenschaftler fehlt, wohl aber ist der 1923 in Köln geborene Philosoph Adolf Grünbaum vertreten, der Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen musste.

Gentests und Eugenik: Illusion oder Realität?

Als eines der Hauptargumente gegen die neuen Möglichkeiten der Biomedizin wird die Eugenik angeführt. Eugenische Gedanken sind seit der Antike bekannt. Aber erst mit Darwins Evolutionstheorie und der sich im 20. Jahrhundert entwickelnden Genetik erhielten sie eine wissenschaftliche Basis. Eugenik lässt sich mit "gute Abstammung" übersetzen und hat das Ziel, die genetische Ausstattung einer Gruppe von Menschen (ihren Genpool) zu verbessern bzw. eine Verschlechterung zu verhindern. Es ist wichtig zu verstehen, dass sich die Eugenik auf die genetische Ausstattung einer Gruppe von Menschen bezieht, nicht auf einzelne Individuen.

Vor allem der Anwendung von Gentests bei vorgeburtlichen Untersuchungen wird ein eugenisches Potenzial nachgesagt. Lässt sich aber tatsächlich eine deutliche Verringerung von genetischen Anlagen für Erbkrankheiten in einer Bevölkerungsgruppe (beispielsweise Deutschland oder Europa) erreichen und die Zahl der Erkrankungen verringern? Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Erstens bedarf es ausreichenden Wissens über die genetischen Grundlagen der jeweiligen Erkrankung, damit die relevanten genetischen Faktoren gezielt beeinflusst werden können. Eine zweite wichtige Voraussetzung besteht darin, dass die Erkrankung durch möglichst wenige erbliche und nicht durch umweltbedingte Faktoren wie beispielsweise Ernährung hervorgerufen wird. Tatsächlich ist das derzeitige Wissen über die genetischen Faktoren von Erbkrankheiten meist nicht ausreichend, um die Häufigkeit krankheitsverursachender Gene gezielt verringern zu können.

Ein typisches Beispiel sind Krebserkrankungen. Bislang sind nur wenige der genetischen Veränderungen bekannt, die einen Tumor auslösen. Erschwerend kommt hinzu, dass in Tumorzellen immer mehrere Gene verändert sind. Zudem sind nur ca. 5-10 Prozent aller Tumorerkrankungen auf erbliche Veränderungen zurückzuführen, alle anderen entstehen durch schädigende Umweltfaktoren (Strahlung, Rauchen, etc.). Die Voraussetzungen für eine eugenisch motivierte Verringerung von Krebserkrankungen sind daher in der Regel denkbar schlecht. Diese Situation ist charakteristisch für die meisten der heute weit verbreiteten Krankheiten.

Warum ist aber die Aufregung um angeblich eugenische Tendenzen so groß, wenn bei vielen Krankheiten keine eugenischen Effekte erreicht werden können? Zum einen existieren einzelne Krankheitsbilder, bei denen eugenische Effekte tatsächlich möglich wären - dazu zählt die Chorea Huntington (Veitstanz) und die Cystische Fibrose (Mukoviszidose). Würde es gelingen, die krankheitsauslösenden genetischen Faktoren aufgrund von Gentests zu bestimmen und durch konsequente Reproduktionsentscheidungen im Lauf der Jahre aus dem Genpool zu entfernen, so würde die Häufigkeit dieser Krankheiten auf sehr wenige Fälle abnehmen, und ein eugenischer Effekt wäre erzielt.

Ein bekanntes Beispiel ist die jüdische Gemeinde der Aschkenasim in den USA, welche durch genetische Tests und Verzicht auf Kinder bei den betroffenen Personen die Veranlagung für Tay-Sachs-Erkrankungen im Laufe weniger Jahre drastisch reduziert hat. Zum anderen ist der Widerstand gegen die moderne Biomedizin dadurch motiviert, dass Gentests es erlauben, genetisches Wissen individuell zu nutzen - entweder zur eigenen Lebensplanung oder um die Gesundheit der eigenen ungeborenen Kinder zu gewährleisten.

Geisel der Vergangenheit

Gegen die Anwendung von Gentests in der Pränataldiagnostik wird häufig angeführt, dass eine Parallele zu den Verbrechen der Nationalsozialisten besteht, da Menschen nach genetischen Merkmalen selektiert werden. Mit diesem historischen Argument wird vor allem in Deutschland die Forderung nach einem Verbot von Gentests im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin (Pränataldiagnosen oder Präimplantationsdiagnosen) begründet. Warum hat das historische Argument, demzufolge die Eugenik notwendig etwas mit den Verbrechen des NS-Regimes zu tun hat, in den USA und Großbritannien bei weitem nicht diese emotionalisierende Wirkung? In diesen Ländern sind die positiven Aspekte der Eugenik noch bekannt. Um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, wurden z.B. verschiedene Maßnahmen zum Schutz vor Umweltgiften und erbgutschädigender Strahlung gefordert. Entsprechende Vorkehrungen wie beispielsweise Bleischürzen bei Röntgenuntersuchungen sind heute so unproblematisch und selbstverständlich, dass man diese historischen Wurzeln der Umweltschutzbewegung vergessen hat.

Andere Auswirkungen der Eugenik, wie beispielsweise Sterilisationsgesetze in zahlreichen Ländern, werden heute zu Recht sehr viel kritischer beurteilt. Dies gilt insbesondere für die staatlich geplante nationalsozialistische Sterilisationspolitik, durch die - etwa im Vergleich zu den USA - die Sterilisationsrate auf etwa das Zehnfache anstieg. Die Eugenik war jedoch eine internationale Bewegung, die im ganzen politischen Spektrum ihre Vertreter hatte und eben nicht auf den Nationalsozialismus reduziert werden kann. Es gab sozialistische, liberale, jüdische, feministische und christliche Varianten. Obwohl dies alles nicht neu ist, wird gerade in Deutschland von einigen Gegnern der Gentechnik die historische Erfahrung in höchst einseitiger Form instrumentalisiert.

Die Heiligkeit der Lotterie der Natur

Von Vertretern der Gentechnik wird aus den Pervertierungen der Vergangenheit nicht der Schluss gezogen, dass die neuen biologischen Techniken grundsätzlich abzulehnen sind, sondern dass die historische Erfahrung die möglichen Gefahren verdeutlicht, die bei einer Wahrung der Chancen beachtet werden müssen. Der Missbrauch der Gentechnik wird nicht als inhärent, sondern als Folge der gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen gesehen. Dieser Gegenpol fehlt in Deutschland weitgehend, es gibt nur wenige offensive Verfechter, und ihre Position ist in den Medien und in der bioethischen Diskussion stark unterrepräsentiert.

Zu den Ausnahmen zählt der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, der darauf verweist, dass es legitim und sinnvoll ist, aus der Vergangenheit zu lernen. Zugleich setzt er sich aber für eine sachliche Auseinandersetzung mit den heutigen Chancen und Risiken ein. Andernfalls würde man in die ethisch untragbare Situation kommen, heutige oder zukünftige Generationen für Verbrechen ihrer Vorfahren leiden zu lassen. Mit welcher Rechtfertigung sollte man aber Mittel zur Verbesserung der Lebensqualität verhindern, nur weil diese in der Vergangenheit missbräuchlich angewendet wurden?

Letzteres würde bedeuten, dass man Frauen zwingt, Kinder mit einer genetischen Veranlagung für später möglicherweise auftretende Krankheiten auszutragen, auch wenn sie dies nicht wollen. Nach dem geltenden Embryonenschutzgesetz dürfen künstlich befruchtete Eizellen (noch) nicht selektiert werden. Dies gilt auch, wenn man um eine genetische Veranlagung für eine Krankheit weiß. In anderen europäischen Staaten ist es den Eltern erlaubt, von der Präimplantationsdiagnose Gebrauch zu machen.

Ein Teil der Bevölkerung wird aus religiösen oder anderen Gründen für sich selbst keine genetischen Tests in Anspruch nehmen. Gibt ihnen das aber das Recht, alle anderen zu zwingen, sich ebenso der "Lotterie der Natur" zu unterwerfen und auf eine aktive Gestaltung ihrer eigenen Gesundheit und der Gesundheit ihrer Kinder zu verzichten? Die meisten Eltern wollen gesunde Kinder, und sie werden aus diesem Grund Methoden genetischer Diagnostik zur Familienplanung in Anspruch nehmen, wenn diese sicher, ungefährlich und verfügbar sind. Wenn sich nun eine größere Zahl von Eltern in diesem Sinne entscheidet, kann es zur Abnahme der Häufigkeit eines bestimmten krankheitserzeugenden Gens kommen. Durch die modernen Methoden der Gentests wird deshalb der alte Traum vieler Eugeniker von der Verbesserung des Genpools auf freiwilliger Basis Realität.

Statt eines Verbots von Methoden, die genetische Selbstbestimmung ermöglichen, ist es notwendig, die politischen und sozialen Rahmenbedingungen zu schaffen, um Diskriminierung und Benachteiligung zu vermeiden. Diese Forderung entspricht einer wissenschaftlichen und säkularen Weltanschauung, die sich auch auf die menschliche Fortpflanzung erstreckt. Im Sinne der Evolutionstheorie ist die aktuelle Zusammensetzung des menschlichen Genoms nichts Heiliges, sondern ein historisches Durchgangsstadium. Auch die Menschen sind eine biologische Art, deren Genpool sich im Laufe vieler Millionen Jahre durch Mutationen, Selektion und verschiedene Zufallsereignisse herausgebildet hat. Durch diesen ungesteuerten Naturprozess sind faszinierende Anpassungen und Fähigkeiten entstanden, es haben sich aber auch eine ganze Reihe von Eigenschaften erhalten, auf die die meisten Menschen wohl gerne verzichten würden. Alter und Krankheit gehören dazu.

Dr. Sabine Paul ist Molekularbiologin und Bioethikerin. Sie arbeitet im Bereich Forschung und Entwicklung des Markenartikelherstellers Procter Gamble.

Dr. Thomas Junker ist Apotheker, Wissenschaftshistoriker und Bioethiker an der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte der Evolutionstheorie und Genetik, Biologie im Nationalsozialismus und Eugenik.

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