Ewiges Solbad

Literatur Roberto Ciulli war der erste italienische Gastarbeiter am westdeutschen Theater, der blieb
Ausgabe 25/2020
Ungern unbehaust: Roberto Ciulli
Ungern unbehaust: Roberto Ciulli

Foto: Bettina Strenske/Imago Images

„Infizieren statt boykottieren!“ Als im vergangenen November der 85-jährige Regisseur, Theaterleiter, Schauspieler und Autor den Theaterpreis FAUST für sein Lebenswerk in Kassel erhielt, zitierte ihn sein Laudator mit genau diesen Worten. Sie zielten auf Roberto Ciullis unermüdliche und manchmal auch unerschrockene Arbeit mit seinem 1980 in Mülheim gegründeten Theater an der Ruhr. Gastspiele in Teheran und gar in Saddams Bagdad: Dämonisierung galt nicht. Die Entdeckung einer neuen Seidenstraße, bevor diese zum geostrategischen Projekt Chinas wurde – da war man kulturelle Avantgarde. Seit vierzig Jahren nun ist das Theater an der Ruhr, wohl nicht ganz zufällig, in einem ehemaligen Solbad am Rande Mülheims zu Hause, ein ganz besonderer Infektionsherd.

Ciulli entstammt einer großbürgerlichen Familie in Mailand, wo er Philosophie studierte und mit 26 Jahren sein Zelttheater Il Globo gründete. Die italienische Gesellschaft nach Mussolini war heftig polarisiert zwischen rechts und links, Nord und Süd, aber im Theater leuchtete der Stern Giorgio Strehlers mit dem „piccolo teatro“ und dessen farbenfrohen Brecht-Inszenierungen für ein neues Volkstheater. 1965 ging der Bürgersohn nach Deutschland, wurde in Göttingen Fabrikarbeiter und Lkw-Fahrer, was er später als „Sprung nach unten“ bezeichnete. Ciulli fand im Theater schnell wieder nach oben: vom Beleuchter und Regieassistenten wurde er innerhalb weniger Jahre Schauspieldirektor in Köln ab 1972, der erste echte italienische Gastarbeiter im westdeutschen Theater, der nicht mehr zurückwollte.

Mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer verbanden ihn die Philosophie und bald der Traum von einem gemeinsamen Theater abseits des normalen Stadttheaterbetriebs mit seinen Premieren-Routinen und Abo-Anforderungen. Dennoch wollte man nicht wie eine unbehauste freie Gruppe herumziehen oder wie damals in Mailand nur in einem Zelt spielen, dafür waren die mit der Erfahrung gewachsenen Ansprüche und damit selbst gesetzten Ziele schon zu hoch – und Ciulli war ja auch schon Mitte vierzig. Als Logo wählte man das bis heute benutzte blaue Autobahnschild, das einen Abzweig – selbstverständlich nach links – zum Theater an der Ruhr zeigt. Dass die Sache mit dem Kurhaus-Theater im damals noch prosperierenden Ruhrgebiet gut ging, ja sogar richtig wichtig und von dieser Randlage aus über Grenzen hinaus interessant wurde, dafür gibt es viele Gründe, aber vor allem einen: Ciulli selbst, der Philosoph mit der Überzeugung von Theater als „kollektiver Intelligenz“. Seine liebste Denkfigur ist die Vertikale, mit der aus der Tiefe der Vergangenheit und ihrer Erfahrung geschöpft wird. Diese Arbeit mit Gedächtnis ist ja dem deutschen Theater nicht mehr immer und überall eigen, und Ciulli hat dazu auch Inszenierungen entwickelt wie Clowns unter Tage, die ganz konkret von den Dingen des Lebens in der näheren, weiteren Umgebung seines Theaters handeln.

Anderthalb Kilo Buch

Das alles kann man jetzt in einem anderthalb Kilo schweren Doppelband nachlesen oder besser erkunden und erschmökern. Allein die im ersten Band wie ein Abenteuer gesprächsweise und mit vielen Fotos und Dokumenten dargebotene Lebensgeschichte von Mailand nach Mülheim könnte selbst diejenigen begeistern, die solche Bücher ansonsten der Exklusivität der Theaterwissenschaft zurechnen, wenn die eigene Theatererlebensgeschichte vielleicht nicht ganz so breit gelagert ist. Der zweite Band enthält viel, was man gemeinhin als Material bezeichnet: Konzeptionen, Rezensionen und immer wieder Gespräche mit Ciulli, der den mündlichen Austausch zu seiner Grundlage des Philosophierens erklärt. Kritische Innenansichten werden in dieser Dokumentation nicht ausgelassen, wenn etwa Navid Kermani, einst begeisterter Hospitant in Mülheim, schreibt, wie Ciulli abtrünnige Schauspieler „fast so hart wie das islamische Recht“ bestraft – durch Totschweigen. Dennoch blieb immer alles höchst lebendig.

Info

Der fremde Blick – Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr Alexander Wewerka, Jonas Tinius (Hrsg.), Alexander Verlag 2020, 1.280 S., 450 Abb., 35 €

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