Exempel statt Experiment

KOMMENTAR Nordirland wieder unter Kuratel

In Belfast schien während der vergangenen Wochen Unerhörtes im Gange. So unerhört, dass es sich nicht einmal zu verstecken wagte. So ungewöhnlich, dass es dafür keinen Vergleich gab. So unübersehbar, dass es nur einer auf Voyeurismus getrimmten Öffentlichkeit entgehen konnte, die mit den geheimen Waffenarsenalen der IRA erschöpfend bedient wird.

Nordirland war dabei, sich den Luxus von Normalität zu leisten: Im Parlament von Stormont kamen die 108 Abgeordneten weitgehend ohne grelle Schlachtszenen aus. Selbst die solange umstrittene Regionalexekutive unter dem protestantischen Premier David Trimble und seinem katholischen Vize Seamus Mallon regierte erstaunlich effizient und homogen. Auch die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 fixierten "gesamtirischen Institutionen" funktionierten schon, womit die Topographie Irlands wieder zu ihrem Recht kam. Nordirland stand im Begriff, sich ein großes Laboratorium zu gönnen, in dem ein Experiment stattfand, das alle Beteiligten eher widerwillig begonnen hatten, inzwischen aber - je länger es dauerte - mit erkennbarer Anteilnahme verfolgten. Die Provinz schien unterwegs, auf dem Weg zu einer fragilen Autonomie - leider ein Weg auf zu dünnem Eis. Die Londoner Entscheidung, das Experiment zugunsten eines erneuten britischen Exempels abzubrechen, wirkt da wie der ungehaltene Ordnungsruf aus einer anderen, ja ebenfalls noch vorhandenen Normalität. Die eines autoritären Vormunds, der resolut eingreift und einfach die Erziehungsmethoden wechselt, auf dass der Zögling nicht zu übermütig werde. Dazu brauchten die Briten nicht erst an den Ort des Geschehens zurückzukehren, denn sie waren ja nie weg. Ihr Militärkontingent musste nach dem Karfreitagsabkommen keinen Aderlass ertragen. Die 12.700 Mitglieder der RUC - der weitgehend unionistisch beherrschten Polizei unter britischer Kontrolle - blieben zusätzlich eine verlässliche Ordnungsmacht. Und die paramilitärische Klientel der Loyalisten steht nicht mit leeren Händen da. 100.000 Handfeuerwaffen könnte sie - nach offiziellen Angaben des britischen Geheimdienstes - dem kanadischen Abrüstungskommissar John de Chastelain zu Füßen legen, wenn sie denn wollte. Als vor elf Monaten - am 15. März 1999 - die renommierte katholische Anwältin Rosemary Nelson unweit ihres Privathauses in der Stadt Lurgan mit ihrem Auto in die Luft gesprengt wurde, bekannte sich kurz darauf die protestantische Terrorschwadron der Red Hand Defenders zu diesem Attentat. Die 40-jährige Mutter von drei Kindern hatte unter anderem als Rechtsberaterin für die katholischen Anwohner der Garvaghy Road in Portadown gearbeitet, jener berühmten Straße, die jedes Jahr im Juli von den Oraniern für ihre Aufmärsche beansprucht wird.

Durfte man unter all diesen Umständen von der IRA ein konziliantes Entgegenkommen erwarten? War eine großmütige Geste des Verzichts wirklich angebracht, um nicht als weiterhin unbelehrbarer Saboteur dazustehen? Oder hatten die Republikaner nicht eher Recht mit ihrer Auffassung, dass die Abrüstung in den Köpfen mindestens ebenso dringlich ist und bleibt, wie die der Arsenale? Und warum sorgen die Briten eigentlich nicht mit ihrem Beispiel dafür, dass es allen leichter fällt, den ultimativen Schritt in Richtung einer Normalität zu wagen, die irrversibel ist?

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden