Manchmal hilft nur noch Sarkasmus: Als „Ehrenmedaille“ bezeichnete der Exiljournalist Can Dündar, 61, seine Aufnahme in eine Terrorliste durch das türkische Innenministerium. Das sei ein „Neujahrspräsent“ des türkischen Präsidenten für ihn, schreibt er am Silvestertag 2022 auf Twitter. Auf seiner eigenen Medienplattform kommentiert er einige Tage später, dass es für Oppositionelle eigentlich unvermeidlich sei, als Terrorist zu gelten, „wenn man gegen Erdoğan ist“. Das klingt recht nüchtern. Vor allem, wenn man weiß, dass Dündar in der Vergangenheit wegen seiner investigativen Berichterstattung inhaftiert, beschossen und ins Exil geschickt worden ist. Die türkische Regierung führt eine
ne Liste der „meistgesuchten“ Terroristen, auf der eine Geldprämie für Informationen ausgesetzt ist, die zur Verhaftung des Verdächtigen führen können. Can Dündar, der seit sechs Jahren in Berlin lebt, wurde in den letzten Tagen des Jahres 2022 auf diese Liste gesetzt.Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Deutschland, verurteilte dies: „Kopfgeld auf gesuchte Personen auszusetzen ist eine Methode wie aus einem Westernfilm.“ Journalisten wurden in der Türkei in den letzten Jahren häufig wegen Terrorismus angeklagt. Allein im dritten Quartal 2022 standen 73 Journalisten in über 50 Prozessen vor Gericht. Die meisten von ihnen wurden laut dem unabhängigen Medien-Watchdog Expression Interrupted aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilt. Die Auslegung des Begriffs „Terrorismus“ ist recht vage: Alles vom Retweeten eines Beitrags bis hin zur Teilnahme an einer Demonstration kann dazu führen, dass man als Terrorist eingestuft wird.Der Grund liegt etwas weiter zurück. Am 28. Mai 2015 steht die linksliberale Cumhuriyet, eine der ältesten Zeitungen des Landes, kurz vor der Drucklegung. Dündar ist damals ihr Chefredakteur. Die Schlagzeilen des nächsten Tages sind brisant: Dündar veröffentlicht exklusives Bildmaterial zu Waffen, die vom türkischen Geheimdienst in den Bürgerkrieg in Syrien geliefert werden. In der Redaktion in Istanbul herrscht an diesem Abend eine angespannte Stille. Die jüngeren Mitarbeiter werden wegen einer befürchteten Polizeirazzia nach Hause geschickt. Die Razzia fällt kleiner aus, dafür droht Recep Tayyip Erdoğan Dündar persönlich im Fernsehen: „Er wird dafür bezahlen.“ Und Dündar zahlt. Im November wird er unter dem Vorwurf von Spionage und Terrorpropaganda verhaftet. Drei Monate später wird er aufgrund einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs freigelassen. Im Mai 2016 wird er vor dem Çağlayan-Gericht in Istanbul von einem bewaffneten Mann angeschossen, als er zu einer Anhörung erscheint. Dündar wird nicht verletzt. Später wird er zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt.Dündar lebt in Berlin unter PolizeischutzNach dem Anschlag nimmt sich Dündar eine Auszeit und reist nach Europa. Derweil wird in der Türkei im Sommer 2016 ein Putschversuch gegen die Regierung unternommen, der scheitert. Trotzdem entwickeln sich die Vergeltungsmaßnahmen schnell zu einer Hexenjagd gegen alle Oppositionellen. Dündar beschließt daraufhin, im Exil in Berlin zu bleiben. In den darauffolgenden Jahren wird seine ursprüngliche Haftstrafe aufgehoben. Ende 2020 erhält Dündar dann eine 27-jährige Haftstrafe. Sein Vermögen in der Türkei wird vom Regime beschlagnahmt. Die türkischen Behörden beantragen die Auslieferung Dündars. Deutschland lehnt dies ab.Can Dündars Spionageklage ist nicht die einzige, die gegen ihn läuft. Erst im vergangenen September wurde er erneut wegen Verleumdung des Präsidenten Erdoğan verklagt. Und jetzt steht Dündar eben auf der Liste der meistgesuchten Personen. Er soll Mitglied der „FETÖ/PYD“ („Fethullahistische Terror-Organisation/Parallelstaatliche Struktur“) sein, die für den Putschversuch 2016 verantwortlich gemacht wird. Zu den Personen, die auf der Roten Liste der gefährlichsten Personen aufgeführt sind, gehören IS-Mitglieder, die Bombenanschläge verübt haben, die Gülenisten, die hinter dem Putschversuch stehen sollen, sowie die Führer der PKK im Kandil-Gebirge. Eine Belohnung von bis zu 500.000 Euro würde an jeden gezahlt werden, der Informationen über diese Personen hat. Die Belohnung für die letzte Stufe, die grau codiert ist, beträgt rund 25.000 Euro. So viel ist der Kopf von Dündar nach Angaben der türkischen Regierung wert. Die Vorstellung, dass irgendjemand diese Belohnung bekommen könnte, ist jedoch weit hergeholt. Denn entsprechend dem Gesetz müsste Dündar an die Türkei ausgeliefert werden, damit jemand die Prämie erhält. Da die deutsche Regierung eine solche Möglichkeit bereits dementiert hat, kann die jüngste Nachricht nur als symbolische Geste gesehen werden.Dündar lebt in Berlin unter Polizeischutz. Der prominente Journalist, Autor vieler Bücher und Regisseur zahlreicher Dokumentarfilme, musste journalistisch ganz von vorn anfangen. 2017 gründete er zusammen mit Correctiv das Online-Medium Özgürüz („Wir sind frei“). Noch heute erreicht Özgürüz mit einem Youtube-Kanal und einem Webradio Hunderttausende Menschen in der Türkei. Vor Kurzem erst wurde bekannt, dass Özgürüz unter finanziellen Problemen leidet. Dündar will, falls das Geld ausgeht, ehrenamtlich weiter berichten, zumindest bis zu den Wahlen in der Türkei, die wahrscheinlich im Mai dieses Jahres stattfinden werden.Placeholder authorbio-1