Experten

Kehrseite III Eines Morgens ging die Sonne nicht mehr auf. Die Menschen wunderten sich, rieben sich die Augen, schauten zur Uhr, erhoben sich schließlich im ...

Eines Morgens ging die Sonne nicht mehr auf. Die Menschen wunderten sich, rieben sich die Augen, schauten zur Uhr, erhoben sich schließlich im Dunkeln und tapsten durch die Straßen. Sie behalfen sich mit diversen Lampen. Nach drei Jahren Dunkelheit begannen sie, sich ernsthaft Sorgen um die Sonne zu machen. Sie bildeten einen Ausschuss zur Wiederherstellung des natürlichen Sonnenlichtes. Dieser beriet lange, wie zu verfahren sei. Nach weiteren drei Jahren, in denen viele Fachleute konsultiert, Gutachten erstellt, Machtkämpfe ausgetragen und Spendengeldaffären geklärt wurden, legte der Ausschuss einen Bericht vor, in dem er den Vorschlag unterbreitete, sechs hochrangige Experten sollten im Himmel nach dem rechten sehen und mit der Sonne in Verhandlungen treten: Ein Arzt, ein Chemiker, ein Psychologe, ein Geistlicher, ein Terrorismusexperte und ein Politiker.

Der Vorschlag wurde beraten, angenommen, Dienstwege wurden eingehalten, Gelder wurden beantragt, bereitgestellt, die Reiseroute wurde geplant, das Raumschiff gebaut. Das dauerte drei Jahre. Dann brach die Crew auf.

In den Zeitungen wurde großartig von dem Ereignis berichtet. Doch viele Menschen konnten mit den Berichten gar nichts anfangen. Sie sagten: "Die Sonne? Was soll das denn sein? Wieder mal so ein wissenschaftliches Hirngespinst. Da sieht man, wie bei uns die Gelder verschleudert werden."

Die Experten brauchten für den Weg zur Sonne drei Jahre. Es ist ja auch ein besonders weiter Weg. Als sie ankamen, fanden sie die Sonne tot, ganz erloschen. Der Arzt stellte fest, dass nichts mehr zu retten sei.

"Bis gestern," sagte ein kleiner Stern, der sich in der Nähe aufhielt, "bis gestern hat sie noch gelebt. Sie war sehr krank. Sie hielt große Stücke auf die Menschen, hat immer von ihnen geredet. Sagte, dass die bestimmt kämen, um ihr zu helfen. Bis zum Schluss hat sie gewartet. Und gestern Abend ist sie dann gestorben." Der Terrorismusexperte schaute den Stern misstrauisch an und verhaftete ihn dann vorsorglich. Der Chemiker nahm noch ein paar Proben von der toten Sonne. Der Geistliche erwies der Sonne die letzte Ehre und schlug das Kreuzzeichen über ihr. Der Philosoph meinte: " Man soll die Hoffnung eben nicht zu früh aufgeben." "Wir haben getan, was wir konnten," sagte der Politiker, "wir haben keine Kosten und Mühen gescheut. Wir haben uns nichts vorzuwerfen."


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