Extremes Europa

Fragmentierung Die neoliberale Elite in Europa weiß keinen Ausweg mehr aus der Krise. Das hat sowohl rechtsextreme als auch linke Parteien stark gemacht
Ausgabe 50/2014
Rechte und Linke wollen unseren Kontinent radikal verändern
Rechte und Linke wollen unseren Kontinent radikal verändern

Montage: der Freitag; Fotos: AFP/Getty Images, Wlad074/Fotalia

An einem Mittwochmorgen in Brüssel: Beppe Grillo bringt im Europaparlament seine Anti-Establishment-Show auf die Bühne. Der Saal ist brechend voll, ein Teil des Publikums muss stehen. Wenn er in Fahrt kommt, ist der ehemalige Stand-up-Comedian Grillo eine Naturgewalt. Er weigert sich, auf dem Podium zu sitzen. Stattdessen tigert er hin und her und stößt ein wildes Stakkato von Beleidigungen und Klagen aus – improvisiert und unaufhaltsam, ein Lacher jagt den anderen. „Ich bin ein bisschen überdreht“, räumt er nach einer halben Stunde ein und holt zum ersten Mal Luft. „Vielleicht sollte ich an dieser Stelle aufhören.“

Beppe Grillo ist der wütende Mann der italienischen Politik. Sein MoVimento 5 Stelle liegt in den Meinungsumfragen in Italien konstant bei 20 Prozent und damit an zweiter Stelle hinter dem linksliberalen Partito Democratico von Ministerpräsident Matteo Renzi. Doch nicht nur Grillo rüttelt an den Türen des Establishments: Überall in Europa erstarken politische Emporkömmlinge, Populisten, Querköpfe, Bilderstürmer und Bürgerbewegungen. Sie geben der Politik ein radikal neues Gesicht. Die Zweiparteiensysteme des 20. Jahrhunderts sind damit Geschichte und stabile Regierungsmehrheiten so schwer zu bilden wie noch nie. Fragmentierung ist die neue Norm in den Parlamenten. Wählerwanderung und der Zerfall von Partei- und Klassenbindungen ergeben einen chaotischen Cocktail mit unvorhersehbaren Folgen. Erst recht mitten in der Wirtschaftskrise.

Italien

Beppe Grillo wartet auf seine Chance

Tom Kington, Rom

Seit Matteo Renzi, der sich als politischer Außenseiter geriert und verspricht, Italiens abgekapselte Wirtschaft aufzustemmen, im Februar dieses Jahres mit 39 Jahren zum jüngsten Premierminister der italienischen Geschichte gewählt wurde, gilt der andere Vorzeige-Nonkonformist im Land, Beppe Grillo, vielen als abgeschrieben.

Der frühere Stand-up-Komiker und legendäre Blogger, berühmt für seine Tiraden gegen das Establishment, holte bei den Parlamentswahlen 2013 sensationelle 8,7 Millionen Stimmen und lag damit an zweiter Stelle hinter dem linksliberalen Partito Democratico. Doch seither stehen die Abgeordneten und Senatoren von Grillos MoVimento 5 Stelle in der Kritik, weil sie bei Gesetzesvorhaben die Zusammenarbeit mit anderen Parteien verweigern. Wenn sie diese Protesthaltung aufgeben, droht ihnen der Parteiausschluss. „In Grillos Parlamentsgruppe gibt es ständig neue Spaltungen, es herrscht ziemliches Chaos“, sagt Roberto D’Alimonte, Professor für Politikwissenschaft in Rom. „Sie warten nur darauf, dass Renzi scheitert und sie dann erben können, was immer nach der Katastrophe übrig bleibt.“

Hinzu kommt, dass Grillos Anti-Europa-Rhetorik neuerdings mit einem Wiedererstarken der rechtsgerichteten, kürzlich noch skandalgebeutelten Lega Nord einhergeht. Unter ihrem schillernden neuen Anführer Matteo Salvini hat die Partei ihr altes Anliegen eines autonomen Norditaliens hintangestellt und geht mit Attacken gegen die Zuwanderungspolitik im ganzen Land auf Stimmenfang.

Warum also kommt Grillo trotz allem noch auf so starke Umfragewerte? In der jüngsten Erhebung kommt das MoVimento 5 Stelle auf 19,9 Prozent, also mehr als doppelt so viel wie die Lega Nord, wenn auch weit hinter Renzi mit 38,9 Prozent. „Grillo wird so lange stark bleiben, bis die Wirtschaft sich erholt hat“, sagt D’Alimonte. Vor allem seine Wutreden gegen Korruption kämen weiter gut an: „Vom Missbrauch öffentlicher Mittel in empörendem Ausmaß müssen wir ja noch immer Tag für Tag lesen.“ Und auch der Niedergang von Silvio Berlusconi komme dem wuschelköpfigen Komiker zugute: „Grillo sammelt Stimmen im ganzen politischen Spektrum, von links bis rechts.“

Philippe Legrain war einmal Berater des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Er sagt: „Die Krise hat das Vertrauen der Wähler in die Befähigung und Aufrichtigkeit der etablierten Politiker zerstört. Sie konnten die Krise nicht abwenden und haben bisher auch keinen Ausweg aus ihr gefunden. Sie haben sich um die Rettung von Banken gekümmert und die normalen Leute ins Elend gestürzt.“

Wenn morgen Wahlen wären, würden jüngsten Umfragen zufolge in einem halben Dutzend EU-Staaten nicht die traditionellen christ- oder sozialdemokratischen Parteien zur stärksten Kraft werden, sondern Neulinge ohne Regierungserfahrung: In Griechenland und Spanien führen linke Bewegungen die Umfragen an, die sich gegen die Austeritätspolitik der EU richten; in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Dänemark befinden sich gegen EU und Einwanderer wetternde Rechtsparteien auf dem Vormarsch. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte lange eine Sehnsucht nach Konsens und Stabilität den Kontinent geprägt, vielerorts hatte das Verhältniswahlrecht Koalitionen der Mitte garantiert und Extremisten von der Regierung ferngehalten. Doch dieses System bröckelt nun.

Auslaufmodell: Zweiparteiendemokratie

Großbritannien stellte mit seinem Mehrheitswahlrecht, das für stabile Einparteienmehrheiten und eine starke Opposition sorgen sollte, stets eine Ausnahme zu diesem europäischen Modell dar. Aber auch das britische System scheint nicht mehr länger lebensfähig, wie die Nachwahlen in Rochester und Strood einmal mehr zeigen werden. Konservative und Sozialdemokraten ziehen gegenüber den frechen, unverbrauchten Gesichtern von Ukip den Kürzeren, schottische Nationalisten und Grüne verzeichnen ebenfalls Zugewinne. Das macht es für Labour und die Konservativen als die beiden alteingesessenen Parteien immer schwerer, sich eine Mehrheit zu sichern.

„Man könnte sagen, dass sich Großbritannien der europäischen Normalität annähert“, meint ein führender EU-Funktionär. „Es wird ein klein wenig wie Belgien. Das System kommt mit den Auswirkungen nicht zurecht, die Dezentralisierung, schottischer Nationalismus und der Einfluss Europas auf die britische Politik ausüben. Aus Brüsseler Sicht braucht Großbritannien eine Große Koalition. Aber das ist natürlich undenkbar.“

Legrain weist darauf hin, dass Wahlbeteiligung und Mitgliederzahlen der Parteien seit Jahren zurückgehen. Die Zeiten, in denen zwei große Parteien 80 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten, sind überall schon lange vorbei.

In Österreich kommen Mitte-Links und Mitte-Rechts heute zusammen auf 50 Prozent und befinden sich de facto in einer permanenten Großen Koalition, um die rechtsextreme FPÖ von der Regierung fernzuhalten. In Deutschland hat Angela Merkel bislang fünf ihrer bisherigen neun Amtsjahre in einer Großen Koalition mit der SPD verbracht, weil sie anders keine Mehrheit mehr zustande bringt. Die FDP ist nach den letzten Bundestagswahlen dabei, sich in Luft aufzulösen; sie wurde von der rechtspopulistischen AfD ersetzt.

Seit dem Ende des Faschismus war auch Spanien eine stabile Zweiparteiendemokratie mit dem Partido Popular rechts und den Sozialisten links der Mitte. In den gegenwärtigen Umfragen kommen auch diese beiden zusammen nur noch auf 50 Prozent und werden von der neuen linken Bewegung Podemos unter Führung des 36-jährigen Politikprofessors Pablo Iglesias auf die Plätze verwiesen. Podemos liefert sich mit den Sozialisten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Allein im Zeitraum von Anfang Oktober bis Anfang November hat die neue Partei gut 14 Prozent hinzugewonnen und lag mit 27,7 Prozent zuletzt deutlich vor den Sozialisten (26,2).

Indem sie Podemos ihre Stimme geben, reagieren die Spanierinnen und Spanier mit einem Linksruck auf den Zusammenbruch der Wirtschaft, die grassierende Korruption und die brutalen, von der EU als Gegenleistung für Finanzhilfen auferlegten Sparmaßnahmen. José Ignacio Torreblanca vom European Council on Foreign Relations in Madrid ist der Meinung, die Anziehungskraft, die Podemos ausübe, ergebe sich nicht nur aus den Inhalten, Zielen und der politischen Ausrichtung der Bewegung, sondern schlicht auch daraus, dass sie frischen Wind in den spanischen Parlamentarismus bringe.

Spanien

Die Indignados übernehmen das Kommando

Ashifa Kassam, Madrid

Letztes Jahr zeigte sich Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy noch unbeeindruckt von den Korruptionsskandalen, die seine Regierung erschütterten. Anschuldigungen wegen schwarzer Konten, über die sich sein rechtsgerichteter Partido Popular (PP) von großen Wirtschaftsunternehmen schmieren ließ, bis hin zu persönlichen Zahlungen an prominente Politiker, auch an ihn selbst, wies er rundheraus zurück. Stattdessen schob Rajoy die Schuld auf Luis Bárcenas, den ehemaligen Schatzmeister des PP: „Es war mein Fehler, jemandem mein Vertrauen zu schenken, der es nicht verdiente. Ich bin hintergangen worden.“

Das peinliche Spektakel der Käuflichkeit auf höchster Regierungsebene war Wasser auf die Mühlen eines Pferdeschwanz tragenden 36-jährigen Politikprofessors namens Pablo Iglesias, der als Anführer der Bewegung Podemos („Wir können“) inzwischen weltweit Schlagzeilen macht.

Bei der Europawahl erlangte Podemos auf Anhieb fünf Parlamentssitze, und im Jahr eins nach ihrer Gründung hat sich die Partei zum Umfragen-Spitzenreiter aufgeschwungen. Straff organisiert und clever im Umgang mit den Medien, ist Podemos zur ernsten Bedrohung für die beiden großen Parteien geworden, die sich seit 1978 in Spanien an der Regierung abwechseln. Iglesias nennt dieses politische Establishment nur „die Kaste“, und sein zorniger Spott über die Herrschenden trifft bei vielen Spaniern einen Nerv: vor allem unter den Arbeitslosen, die nach wie vor ein Viertel der Erwerbsbevölkerung ausmachen und bisher vergeblich darauf warten, dass die von der Regierung behauptete wirtschaftliche Erholung irgendwann auch bei ihnen ankommen wird.

„Bei der politischen Botschaft von Podemos geht es weniger um rechts und links als um oben und unten“, erklärt José Pablo Ferrándiz vom Meinungsforschungsinstitut Metroscopia. „Ihre Grundfrage lautet: Leidest du genauso unter der Krise wie wir anderen? Und damit stoßen sie auf großen Widerhall.“

Mit Plänen, die wichtigsten Wirtschaftszweige Spaniens zu verstaatlichen, Privatunternehmen höher zu besteuern und das Rentenalter auf 60 Jahre abzusenken, um den Arbeitsmarkt zu entlasten, bietet Podemos der Bevölkerung ein Vehikel, um die Wut auf jene Mächte zu kanalisieren, denen die Schuld an der Krise gegeben wird. In der monatlichen Umfrage für die Tageszeitung El País schnellte die neue Partei von 14 Prozent im Oktober auf 28 Prozent im November empor und hängte damit sowohl die Sozialdemokraten (26 Prozent) als auch den regierenden PP (21 Prozent) ab.

Dieser Höhenflug ist eng verknüpft mit der nicht abreißenden Welle von Korruptionsskandalen im Land. Fast täglich kommen neue Fälle ans Licht, etwa der von den 86 Politikern und Bankern, die mit Firmenkreditkarten vom Geldinstitut Caja Madrid für gut 15 Millionen Euro einkaufen gingen und sich auch mal eine Großwildsafari gönnten. Oder der von den 32 Beamten in etlichen Provinzen, die gerade verhaftet wurden, weil sie für die Vergabe öffentlicher Aufträge Schmiergelder kassiert haben sollen. Oder der von den beiden ehemals hochrangigen sozialdemokratischen Funktionären in Andalusien, die wegen gefälschter Abfindungszahlungen in dreistelliger Millionenhöhe vor Gericht stehen.

Während Podemos verspricht, der Korruption ein Ende zu bereiten, versucht der PP weiterhin, das Problem herunterzuspielen. Diesen Monat erst sagte Ministerpräsident Rajoy im Parlament: „Lasst uns nicht den Eindruck erwecken, dass dieses Land in Korruption versinkt. Denn das ist nicht die Wirklichkeit.“ In diesen so unterschiedlichen Reaktionen zeige sich die große Stärke von Podemos, sagt Meinungsforscher Ferrándiz: „Indem sie auf Themen wie Transparenz und Bürgerbeteiligung setzen, zwingen sie die anderen Parteien, über Maßnahmen nachzudenken, die ihnen früher nie in den Sinn gekommen wären.“

Nur in Katalonien, wo die Unabhängigkeitsdebatte das politische Leben beherrscht, kann Podemos bisher nicht im selben Maß Fuß fassen. Dort führt die Republikanische Linke, die für eine Abspaltung von Spanien eintritt, die Umfragen an.

„Eine Stimme für Podemos ist eine Voodoo-Stimme. Bislang haben die Menschen gewählt, ohne dass das irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte. Nichts ist passiert. Wer wählte, konnte weder die Politik ändern noch die Politiker, denn nach Wahlen tritt hier niemand zurück“, sagt Torreblanca. „Jetzt haben viele zum ersten Mal das Gefühl, etwas verändern zu können, wenn sie Podemos wählen. Mit ein und derselben Stimme votieren sie gegen die etablierten Parteien, die ungerechte Verteilung von Vermögen und Einkommen, gegen Korruption, Angela Merkel und die Märkte.“

Ähnliche Muster kann man in Irland beobachten, wo mit Fianna Fáil und Fine Gael ebenfalls jahrzehntelang zwei Parteien die politische Landschaft dominierten. Doch mit dieser Eintracht ist es nun vorbei. Während die beiden alten Platzhirsche starke Einbußen erleiden, legt die republikanisch-sozialistische Sinn Féin unter Führung von Gerry Adams in den Umfragen kräftig zu.

Nach der Finanzkrise sei Irland langsam in Richtung eines „unregierbaren Landes“ abgerutscht, schreibt Fintan O’Toole in der Irish Times: „Mit dem politischen System Irlands passiert gerade etwas Entscheidendes: Es verliert die Fähigkeit, das einzige Versprechen zu halten, das es jemals wirklich ernst genommen hat: das Versprechen von Stabilität.“ Bei den jüngsten Europa- und Kommunalwahlen erhielten auch in Irland die beiden ehemals großen Parteien zusammen weniger als die Hälfte der abgegebenen Stimmen – das gleiche Muster wie im Rest Europas.

Ratlose Regierungen

Die Ausweitung der Anzahl der in den Parlamenten vertretenen Parteien von zwei oder drei hin zu fünf, sechs oder sieben hat lange Zeit gebraucht, um dann aber durch das Finanz- und Schuldendesaster der vergangenen vier Jahre einen gewaltigen Schub zu erhalten. Was als Finanz-, Schulden- und Währungskrise begann, hat sich zu einer grundsätzlichen Krise des herrschenden Wirtschafts- und Regierungssystems ausgewachsen. Europa steckt in Stagnation und Deflation fest. Es gibt weder Wachstum noch Arbeitsplätze und die Eliten wissen nicht mehr, wie sie der Situation begegnen sollen.

Griechenland

Selbst die Reichen wählen links

Helena Smith, Athen

Wohl mehr als jedes andere Land in Europa verkörpert Griechenland den Aufstieg politischer Widerständler von links und rechts. Der Staat an vorderster Front der Eurokrise war der erste, in dem Mainstream-Politiker abdanken mussten, weil die Wähler sie für die grassierende Korruption und den wirtschaftlichen Zusammenbruch verantwortlich machten. An die Stelle der linksliberalen Pasok und der rechtsliberalen Nea Dimokratia (ND), die sich 40 Jahre lang an der Macht abgewechselt hatten, sind die linksradikale Partei Syriza und die neofaschistische Chrysi Avgi getreten.

„Wir können den Kurs Europas ändern, die katastrophale Austeritätspolitik stoppen und Demokratie und soziale Gerechtigkeit zurückbringen“, sagt der Syriza-Vorsitzende Alexis Tsipras. „Mit jedem Tag wächst die Volksbewegung in den südeuropäischen Ländern als mächtiger Gegner der neoliberalen deutschen Vorherrschaft.“

Meinungsumfragen stützen diese Selbsteinschätzung. Entfielen vor dem Kollaps 83 Prozent der Wählerstimmen auf Pasok und ND und weniger als fünf Prozent auf Syriza, so lagen die Linksradikalen diesen Oktober bei 35 Prozent und damit höher als Konservative und Sozialdemokraten zusammen. Jüngste Erhebungen ergeben für Syriza einen Vorsprung von bis zu zwölf Prozentpunkten gegenüber der ND. Ob die Partei eine Parlamentsmehrheit zusammenbringen könnte, bleibt allerdings weiterhin fraglich.

Um ihre Basis zu erweitern, bemühen sich in letzter Zeit sowohl Syriza als auch die rechtsradikale Chrysi Avgi – die bei der Europawahl im Mai überraschend gut abschnitt, seither aber an Zustimmung verliert – um ein gemäßigtes Auftreten. Im September reiste der telegene Syriza-Vorsitzende und bekennende Atheist Tsipras zu Papst Franziskus nach Rom. Und anstatt das drückende Reformprogramm, das EU und IWF Griechenland verordnet haben, rundheraus zu verdammen, setzt Syriza nun offiziell auf „Nachverhandlungen“. Mit Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, habe man bereits „konstruktive Gespräche“ geführt.

Dass Ministerpräsident Antonis Samaras unterdessen mit dem Versuch gescheitert ist, durch einen frühzeitigen Ausstieg aus dem EU-Hilfsprogramm das Joch der internationalen Aufsicht abzuwerfen, hat die ohnehin fragile Regierung noch weiter geschwächt. Und in die Ansätze von Euphorie über neue Zahlen, die zeigen sollen, dass Griechenland seine Rekordrezession endlich überwunden hat, platzte der Rückzug eines prominenten konservativen Parlamentariers hinein: Er gilt als Beleg dafür, dass wirtschaftsnahe Kreise der Regierungskoalition den Rücken kehren. Unlängst bekundete die populäre Politikerin und Reederin Gianna Angelopoulos, die im Jahr 2004 die Olympischen Spiele in Athen organisiert hatte, offen ihre Unterstützung für Syriza.

Um mehr als ein Viertel ist das Bruttoinlandsprodukt in den vergangenen Jahren geschrumpft, die Arbeitslosenquote liegt nach wie vor bei über 26 Prozent, die Bevölkerung ist zermürbt von Sozialkürzungen und Steuererhöhungen. Wir haben nichts zu verlieren, wenn wir der Linken eine Chance an der Macht geben: Diese Ansicht breitet sich immer weiter aus, und falls die Regierung im Februar nicht die nötige Zweidrittelmehrheit für die Wahl eines neuen Staatspräsidenten zusammenbringt, könnte sie sich bald in politische Realität verwandeln. Alexis Tsipras ruft schon ungeduldig nach Neuwahlen, um „Erlösung und Wandel“ zu bringen und Griechenland wieder der Kontrolle der internationalen Mächte zu entziehen, die das Land ins Elend getrieben hätten.

„Viele Menschen halten es für an der Zeit, ihre Meinungen und Interessen anders auszudrücken. Zunächst in NGOs, in jüngerer Zeit dann in spontanen Kampagnen, die zumeist vom Internet ausgehen: Facebook-Gruppen, Twitter-Kampagnen, Petitionen und so weiter“, sagt Legrain. „Die Globalisierung hat dazu beigetragen, dass die Macht der nationalen Regierungen erodiert, sich auf die Märkte und die EU verlagert, Ohnmachtsgefühle verursacht und mancherorts zu einem Erstarken nationalistischer oder regionalistischer Tendenzen führt.“ Die Politiker tun sich schwer, die Kontrolle zu behalten. Als der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu Beginn des Monats November sein Amt antrat, stellte er sein Team als „die letzte Chance für Europa“ vor.

„Alles wäre anders, wenn es wirtschaftlichen Optimismus gäbe. Aber stattdessen herrscht ein intensives Gefühl, dass in unserer Gesellschaft große Ungerechtigkeit herrscht“, sagt der hochrangige EU-Funktionär. „Wenn die Wirtschaft noch weitere ein oder zwei Jahre nicht wächst, dürften die Mächtigen nervös werden. Ein Aufstand ist nicht so weit weg, wie man meinen könnte. Die Regierungen haben offenbar keine Ahnung, was sie machen sollen.“

Skandinavien

Ausländerfeindliche Parteien werden immer stärker

Richard Orange, Stockholm

Schwedens Sozialdemokraten, die lange ein Naturrecht auf die Regierung zu haben schienen, sind im September nach acht Oppositionsjahren an die Macht zurückgekehrt. Doch die eigentlichen Wahlgewinner waren die Schwedendemokraten – eine Anti-Einwanderungspartei mit Neonazivergangenheit, deren Vorsitz seit fast zehn Jahren der noch relativ junge Jimmie Åkesson inne hat. Die Schwedendemokraten kamen auf 13 Prozent der Stimmen, nach sechs Prozent bei den Wahlen von 2010. Damit konnten sie die Grünen als drittstärkste Partei überholen.

Inzwischen haben die Schwedendemokraten durch ihr Abstimmungsverhalten in der Haushaltsdebatte die rot-grüne Minderheitsregierung von Premier Stefan Löfven zu Fall gebracht. Am 22. März soll es Neuwahlen geben, bei denen sie erneut Stimmengewinne verbuchen dürften. In einem Maße, dass eine Regierungsbeteiligung in greifbare Nähe rückt?

Noch finsterer sieht es für die Genossen im benachbarten Dänemark aus, wo nächstes Jahr wieder gewählt wird. Laut jüngsten Umfragen rangieren sie dort mit 20,4 Prozent sogar knapp hinter der rechtspopulistischen Volkspartei. Doch auch am anderen Ende des politischen Spektrums dringen in beiden Ländern die Aufrührer vor. In Schweden scheiterte die Feministische Initiative nur knapp an der Vierprozenthürde, und in Dänemark konnte die linksradikale Rot-Grüne Einheitsliste, angeführt von der 30-jährigen Johanne Schmidt-Nielsen, ihre Umfragewerte in den letzten Jahren auf über neun Prozent vervierfachen.

Nicholas Aylott, Politologe an der Stockholmer Södertörn-Universität, erklärt sich den Zuwachs der Schwedendemokraten damit, dass die etablierten Parteien nicht im großen Stil über Zuwanderung diskutieren wollen: „Es ist erstaunlich, dass eine so extreme Partei in Schweden derart aufsteigen kann, und ich fürchte, ein Grund dafür ist die sehr eingeschränkte Debatte.“

Nachdem Fredrik Reinfeldt, Vorsitzender der konservativen Moderaten, im Wahlkampf die Bevölkerung dazu aufgerufen hatte, für eine sprunghaft wachsende Zahl von Asylbewerbern „ihre Herzen zu öffnen“, brach der Stimmenanteil seiner Partei von 30,1 auf 23,1 Prozent ein.

Befürworter der schwedischen Regelung argumentieren, die Zuwanderungsdebatten in Dänemark und Norwegen seien nur den Populisten zugutegekommen. Zwischen 2001 und 2011 ließ sich die dänische Minderheitsregierung von der Volkspartei unterstützen und ermöglichte es den Rechten, eine der restriktivsten Einwanderungsregelungen Europas durchzusetzen. In Norwegen ist die immigrantenfeindliche Fortschrittspartei, der auch Anders Breivik einige Jahre angehörte, seit einem Jahr Juniorpartner in der Regierungskoalition, und die Parteivorsitzende Siv Jensen, berüchtigt für ihre Warnungen vor einer „schleichenden Islamisierung“, ist Finanzministerin.

Ob auch die Schwedendemokraten auf ähnliche Weise den politischen Mainstream entern können, ist noch ungewiss. Bisher geloben alle im Parlament vertretenen Parteien, nicht mit ihnen zusammenzuarbeiten, auch wenn die 49 Abgeordneten der Rechtspopulisten einer Koalition unter sozialdemokratischer oder konservativer Führung zu einer Mehrheit verhelfen könnten. Für Anna Kinberg Batra, die neue Vorsitzende der Moderaten, ist die Zuwanderung ein zu heikles Thema, als dass sie von der flüchtlingsfreundlichen Haltung ihres Vorgängers Reinfeldt abrücken würde.

Nun aber mahnt Svenska Dagbladet, die einflussreichste konservative Zeitung, es müsse dringend öffentlich diskutiert werden, wie viele Asylbewerber Schweden aufnehmen könne. Viele sehen darin ein weiteres Zeichen für einen Stimmungswechsel.

Da stabile Mehrheiten immer schwieriger werden, versuchen die Eliten, den Laden mit Minderheitsregierungen wie in Schweden oder Dänemark oder Großen Koalitionen wie in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden weiter am Laufen zu halten. Aber Große Koalitionen ersticken die parlamentarische Demokratie, politische Entscheidungen werden zunehmend hinter verschlossenen Türen getroffen; die Parlamente verkommen zu Erfüllungsgehilfen der Regierungen und Populisten erhalten Zulauf.

Junckers Debakel

Anfang November wurde das Problem im Europäischen Parlament in seiner ganzen Breite deutlich: Auch hier hat nun eine Große Koalition aus Christ-, Sozial- und Liberaldemokraten das Sagen. Sie versucht, die Europa-Kritiker von rechts und links, die bei den vergangenen Wahlen im Mai europaweit sehr gut abgeschnitten haben, zu marginalisieren.

Für viele der neuen Parteien stehen Brüssel und die Institutionen der EU stellvertretend für alles, was schiefläuft – Spardiktat für die Armen auf der einen Seite, während die Reichen auf der anderen in keiner Weise zur Verantwortung gezogen werden. Brüssel ist zum Inbegriff der Politik einer entrückten Elite geworden, die den Kontakt zu den Bürgern verloren hat. Niemand verkörpert diese Elite besser als der Präsident der Europäischen Kommission, der gleich in seinen ersten Tagen im neuen Amt die schlimmsten Befürchtungen seiner Kritiker bestätigt hat: Gerade einmal drei Tage im Amt, versprach Jean-Claude Juncker ein neues System der Transparenz, Fairness und Solidarität. Er wolle versuchen, die tiefen Wunden zu heilen, die der jahrelange Sparkurs den Mitgliedsländern geschlagen habe.

Frankreich

Das Land sucht einen neuen Helden

Kim Willsher, Paris

Für den Front National in Frankreich heißt der politische Gegner UMPS. Das ist eine Namensverschmelzung der beiden Mainstreamparteien – der konservativen UMP und des sozialdemokratischen PS – und soll deutlich machen, dass beide gleichermaßen unfähig seien. Der FN setzt auf populistische Parolen gegen Zuwanderer, doch er profitiert nicht nur von Ängsten, die sich mit der Wirtschaftskrise verstärkt haben, sondern von einem tiefgreifenden Glaubwürdigkeitsverlust der großen Parteien.

Auf der linken Seite stehen Präsident François Hollande und sein PS von außen wie innen unter Dauerfeuer. Wirtschaftsliberale Kreise werfen der Regierung vor, sie versäume überfällige Strukturreformen, um Arbeitsplätze und neues Wachstum zu schaffen und die Staatsausgaben zu verringern. Dass Frankreichs Haushalt gegen die EU-Defizitgrenze verstößt, ist ein vertrautes Bild und war auch unter der konservativen Vorgängerregierung von Nicolas Sarkozy nicht anders. Nun aber hat die Europäische Kommission die Geduld verloren und zieht Hollande zur Verantwortung. Der Präsident wankt. Ins Amt kam er, weil Frankreich sich einen Monsieur Normal wünschte. Nun aber scheint das Land sich eher nach einem Helden zu sehnen, und dafür fehlt es Hollande an Format.

Zudem verübeln ihm viele PS-Anhänger, dass er im Wahlkampf ein sozialistisches Programm verfochten und sich dann im Amt in einen Sozialdemokraten verwandelt habe.

Auf der rechten Seite wiederum schlingert die oppositionelle UMP, die das politische Erbe Charles de Gaulles verwaltet, von Katastrophe zu Katastrophe. Seit Sarkozy im Jahr 2012 die Präsidentschaftswahl verlor, steht die Partei weitgehend kopflos da. Ex-Premierminister François Fillon und Ex-Generalsekretär Jean-François Copé bezichtigten sich im Streit um den Parteivorsitz gegenseitig der Wahlfälschung. Aus dem Scharmützel wurde eine anhaltende Schlammschlacht. Vor einigen Wochen ist auch Sarkozy wieder in den Ring gestiegen, nun wurde er Ende November wieder zum Parteivorsitzenden gewählt; eine erneute Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2017 wird ihm wohl niemand mehr streitig machen können. Hinzu kommt, dass die UMP – und auch „Sarko“ selbst – in eine ganze Reihe von Skandalen um Wahlkampfausgaben verwickelt ist.

Unter diesen Umständen erinnert der Aufstieg des Front National an den Spruch von den Blinden, unter denen der Einäugige König ist. Die FN-Vorsitzende Marine Le Pen hat als ihre Zielgruppe die „Globalisierungsverlierer“ ausgemacht – und ein Großteil der französischen Bevölkerung fühlt sich angesprochen. Die Skandale, Konzeptlosigkeiten und inneren Querelen der großen Parteien machen das Hauptargument des FN im Land mehrheitsfähig: Die etablierten Politiker, zumeist Absolventen aus dem exklusiven Kreis der Grandes Écoles, seien eben „alle gleich“.

24 Stunden später war Juncker plötzlich spurlos verschwunden: Die Zeitungen in praktisch allen 28 EU-Mitgliedsländern berichteten nämlich über jenes labyrinthische System der Steuervermeidung, das in seiner Zeit als Premierminister in Luxemburg ausgeklügelt worden war. Die weltgrößten Banken und multinationalen Konzerne wurden quasi wie durch ein magnetisches Feld von dem winzigen Großherzogtum angezogen. Über zehn Jahre lang hat Luxemburg Unternehmen rechtlich dazu ermuntert, ihre Steuerausgaben zu reduzieren, die eigentlich in anderen EU-Ländern hätten entrichtet werden müssen.

Der EU-Bürger als Wutbürger

Junckers Debüt war ein Desaster. „Der Kommissionspräsident sagt uns, was zu tun ist, während er sein Geld in einem Steuerparadies bunkert“, bemerkte Grillo dazu spöttisch. Nachdem er sieben seiner zehn ersten Tage im Amt praktisch verschwunden war, wurde er aufgefordert, das Parlament über den Steuerskandal zu informieren. Doch weit davon entfernt, sich unangenehme Fragen anhören zu müssen, wurde er von wichtigen Vertretern des Parlaments herzlich empfangen. Die Große Koalition der Zentristen aus Europäischer Volkspartei (EVP) und der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) nahm Juncker nicht ins Kreuzverhör, sondern beschützte ihn sogar – ein Verhalten, das kaum dazu geeignet scheint, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu besänftigen und für einen Politikwechsel zu sorgen. „Das hier hieß einmal Europäische Gemeinschaft, aber eine Gemeinschaft gibt es nicht mehr“, schrie Beppe Grillo. Und wer wollte ihm da ernsthaft widersprechen. Immerhin wurde mit Jean-Claude Juncker als dem Spitzenkandidaten der Christdemokraten das Versprechen gegeben: Durch ihn werde es auch eine moralische Erneuerung geben. Die EU-Institutionen wollten sich wieder dem Bürger zuwenden, der das vereinte Europa längst als Zumutung des neoliberalen Ausverkaufs empfindet.

„Die Empörung der Menschen ist vollauf gerechtfertigt“, sagt auch Philippe Legrain. „Leider richten sie ihre Wut aber oft auf Sündenböcke, besonders Einwanderer, anstatt auf Banker, Wirtschaftsbosse und Politiker, die Europa in den Graben gefahren haben.“

Ian Traynor arbeitet als Europa-Korrespondent für den Guardian und berichtet aus Brüssel

Übersetzung aller Texte: Michael Ebmeyer und Holger Hutt

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