Fahrradweg, metaphysischer

Berliner Abende Geschmack hatten sie, die Besucher. Auch wenn es nicht die erhofften Besuchten waren. Oder die gefürchteten. Also nicht besuchte Besucher aus ...

Geschmack hatten sie, die Besucher. Auch wenn es nicht die erhofften Besuchten waren. Oder die gefürchteten. Also nicht besuchte Besucher aus Marzahn, dem Märkischen Viertel, Lichtenberg und Neukölln, das "Volk", so der Kultmoderator, in das hinein die frühzeitig sommernde Volksbühne mit ihrer "Rollenden Road Schau" zu brettern gedachte - vier Container in der Berliner Trendfarbe Stadtreinigungsorange. Mit "We kehr 4 you" und ähnlichem Realitätsvernebelungsschrott, pestilenzartig häuserfrontbreit verklebt, hat das Dreckmanagement die Herzen der Intellektuellen gewonnen. Da gehen die Lügen schon los. Die kehren für die Mitte, dass dem Kanzler wenigstens der Schuh nicht stinkt, und nach den Würdelosigkeiten diverser Paraden, die Berlin über das verschenkte Flaschenpfand am Leben erhalten. Aber hier in Lichtenberg, beispielsweise, Orange praktisch nur am Plakat. Ich reg mich schon wieder auf.

Also hinein bretterten die Container, und Marzahn und Märkisches Viertel schon sehr problematisch: geradezu solidarische Ignoranz der Besuchten. Nur durch das Anreisen von Kultmoderator-Fanclubs konnten Desaster im Sinne von Volksaufklärung und Kommunikationserzwingung getarnt werden. Ich war in Lichtenberg, und auch wenn der Kultmoderator so über den Lidl-Parkplatz Bornitz/Ecke Ruschestraße hinpfiff, als befände er sich im tiefsten Wald: "Det is doch interessant, du fährst irgendwo hin und guckst mal wat wird", so ist doch in jener, vom Veranstalter als "Öde, Leerstand, Brache und Abbau Ost" korrekt bezeichneten Situation, nie nicht das Volk gesichtet worden, kaum wenn der Lidl auf hat, und am Abend, wenn die Volksbühne in Orange brettert, schon gleich gar nicht. Vielleicht wollte die gar nicht, dass jemand in Lichtenberg mit der geilen Faschoszene, die es dort hat, spannt, dass hinterm Lidl Theater gemacht wird, damit die Angestellten nichts auf die Künstlerbacken kriegen, weswegen sie wahrscheinlich auch ihre Plakate mit Kultmoderatoren-Unterschrift an die Fan-Groupies verteilt haben, statt sichtbar zu hängen. Nur so eine Idee.

Aber die Besucher, wenn auch nicht besucht: prima Geschmack. Am Rande der Road-Schau legt die 37,6-Grad-Abteilung Sprenganträge aus. Da kannst du eintragen, was du in Berlin sprengen möchtest. Und jetzt erste Auswertungen: Spitzenreiter mit gut zehn Prozent ist der Potsdamer Platz. Krach, weg! An zweiter Stelle liegt das Stadtschloss. Krach, weg! An dritter der Palast der Republik. Krach, weg! Guter Geschmack und Gerechtigkeit gleichzeitig plus vorausschauendes Sprengbewusstsein. Das Stadtschloss muss ja erst mal wieder erbaut werden. Aber dann sofort: Krach, weg! Hervorragend.

Was mir jewundert hat an die Event, wie lieb der war im grauslichsten Berliner Verlotter. Beispiel: 300 Meter von Mielkes Folterladen entfernt pixelten nacktärschige Performer aus Toasts verschiedener Röststufen nicht etwa sein Brustbild - Kiezgrößen waren versprochen, im Märkischen Viertel soll es immerhin zu Ulrike Meinhof gekommen sein -, sondern einen Bären, weil kilometerweit entfernt der Tierpark ist. Kultmoderatorhaft verbrämt, weil Heiner Müller über dem Tierpark gelegentlich aus der Platte auf echte Bären glotzte, Zigarrenasche fallen ließ und ein bisschen halbschattiges Geschwall, in feste Form gefasst, hinterher. Oder, dachte ich im Kontext, vielleicht eine ausgleichende Referenz an den hohen Anteil diverser Altkader hier im Viertel, dass also die Aufklärer zwischen Jung-Faschos und Alt-Stasis nicht rüde abgeklärt würden.

Den nicht besuchten Besuchern war es egal. Prima Puppen rappten zu erstklassiger Musik einiges über Minderwertigkeitsgefühle, in einer Sprache, die in Lichtenberg kaum jemand versteht. Der Bär wurde überaus golden-toastig. Der Kulturmoderator zeigte Schnipsel aus alten Volksbühnenschnipseln, Schauspieler spielten sich auf, der Wind trieb die Wolken zusammen, und der Regen kam nur so herunter. Fliehen.

Und im Fliehen entlang der Bornitzstraße: ein Fahrradweg! Im Nichts! Nirgendwo in Berlin ein Fahrradweg. Aber hier: breites, sattestes Rot, stufenlos verstellbar, auf beiden Seiten. Im Nichts endend an der Rusche-, andersseitig im Nichts an der Siegfriedstraße. Ich will jetzt nicht zu hoch hinaus: Dass das Leben sei wie dieser Fahrradweg, ein kurzes, sinnloses Leuchten im Nichts etwa. Jedenfalls hat mich der Schock melancholisch gestimmt, klatschnass an der Grenze zum neuen Tag: Kurz leuchtet so ein Lidl-Parkplatz auf, vorher nichts, danach nichts, dazwischen die eitle Schau des Lebens. Unbemerkt.

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