Jetzt haben wir zumindest eine gewisse Klarheit nach jahrelangem Warten auf eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts. Und wenn auch die Schlagzeilen nach der Urteilsverkündung beherrscht werden von dem Hinweis auf die – teilweise – Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im Hartz-IV-System, sollte man sich klarmachen, dass die vielen Hoffnungen und Erwartungen auf ein generelles Ende der Sanktionierung, also einer Absenkung des staatlich definierten Existenzminimums, nun bitter enttäuscht wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat den Jobcentern die härtesten Ausformungen des Sanktionsregimes genommen, und das allein ist schon eine gute Nachricht für viele Betroffene, die sowieso schon am Rand leben und oftmals in den Abgrund gestoßen wurden, wenn sie in die Sanktionsmaschinerie gekommen sind. Das Fallbeil der Leistungskürzung wird etwas entschärft, denn mehr als 30 Prozent Kürzung gehen nicht mehr, und auch die starre dreimonatige Dauer kann verkürzt werden, wenn der Betroffene auf den „rechten Weg“ zurückkehrt oder das – wie? – glaubhaft machen kann.
Auf der anderen Seite müssen wir zur Kenntnis nehmen: Die Verfassungsrichter haben die Hoffnung auf ein Verbot des Unterschreitens des Existenzminimums abgeräumt. Wir haben nun die höchstrichterliche Bestätigung einer 70-Prozent-Existenz in unserem Land. Es gibt in der Konsequenz also ein neues, abgesenktes Existenzminimum, was eines der logischen Probleme war, mit denen sich die Richter herumgeschlagen haben. Denn ihre Vorgänger hatten noch 2010 von einem „unabdingbaren Grundrecht“ gesprochen. Gleichsam die letzten Zuckungen dieser weitreichenden Formulierung von damals finden sich im neuen Urteil in so einer an sich wunderbaren Formulierung: „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren.“ Der eine oder andere mag an dieser Stelle ein Aufblitzen der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens zu erkennen glauben, aber das ist ein Trugschluss. Schon der nächste Satz räumt das ab: „Das Grundgesetz verwehrt es dem Gesetzgeber aber nicht, die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz zu binden, also nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können, sondern wirkliche Bedürftigkeit vorliegt.“
So ist das eben: In einem bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfesystem gibt es Bedingungen, und deren Nicht-Einhaltung kann und muss in dem System auch sanktioniert werden. Die Verfassungsrichter haben sich aber zugleich, bei aller Freude über die vorgenommene Einhegung der Sanktionierungspraxis, insofern einen schlanken Fuß gemacht, indem sie zwar einerseits ein wenig mehr Rechtssicherheit schaffen durch die Begrenzung, zum anderen aber den Ball wieder kraftvoll zurückschießen an die Politik und vor allem in das Feld der Jobcenter. Die „sollen“, „dürfen“, „können“ in Zukunft – hört sich nach mehr Freiheitsgraden vor Ort an, sind aber unbestimmte Rechtsbegriffe für eine wahrhaft existenzielle Angelegenheit.
Da tun sich ganz große Baustellen auf – denn in Zukunft wird es noch mehr darauf ankommen, wie das in den Jobcentern konkret umgesetzt wird und ob bzw. welche Möglichkeit die Betroffenen haben, der Machtasymmetrie zu begegnen.
Darüber hinaus ist auch die Politik gefordert – denn die Verfassungsrichter haben nicht nur ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Urteil nur für die kleine Gruppe der „harten“ Fälle gilt, also wo irgendeine Arbeit oder eine (sinnvolle?) Maßnahme verweigert wird. Aber 77 Prozent der Sanktionen entfallen auf Meldeversäumnisse. Nicht nur die sind ausgeklammert, sondern auch das bestehende, besonders harte Sanktionsregime für die unter 25-Jährigen. Die bekommen schon bei einem ersten Verstoß nur noch die Kosten der Unterkunft, der Rest wird vollständig gekürzt. Das müsste nun auch logischerweise korrigiert werden. Was übrigens schon seit Jahren von fast allen gefordert wird, selbst seitens der Bundesagentur für Arbeit. Gescheitert ist das bislang aber am Widerstand aus Bayern, seitens der CSU. Ist es so abwegig anzunehmen, dass wir hier am Vorabend eines weiteren veritablen GroKo-Streits stehen, wenn dort eine solche sinnvolle Entschärfung auf die Tagesordnung gesetzt wird? Man denke hier nur an die Energie, die manche darin investieren, eine Bedürftigkeitsprüfung bei der „Grundrente“ durchzusetzen.
Fazit: Das höchste Gericht hat ein Urteil gefällt, das die Systemfrage einerseits erkennbar umschifft, also die Letztfrage der Bedingungslosigkeit eines existenziellen Minimums. Auf der anderen Seite hat es die Systemfrage eindeutig geklärt, denn im bestehenden System der bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfe darf der Staat ein Sub-Existenzminimum installieren. Für viele Menschen wird es pragmatisch nun darum gehen müssen, dass das, was in den Jobcentern passiert, rechtlich möglichst klar normiert und zugleich eine zivilgesellschaftliche Anwaltsfunktion installiert wird, die Hilfestellung leisten kann, wenn man im letzten Außenposten unseres Sozialstaates unter die Räder kommt.
Kommentare 7
Es gibt für die Sachbearbeiter der Jobcenter manigfaltige Möglichkeiten den Beziehern von ALGII das Leben zur Hölle zu machen - da sind Sanktionen eigentlich nur eine Seite.
Ich bin mir indes nicht nur absolut sicher, dass die SPD samt ihres Koalitionspartners nicht einen Milimeter hinter das Urteil des Verfassungsgerichts zurückfallen wird - man wird kreativ nach Mitteln suchen, die Sanktionen künftig so anzupassen, dass sie möglichst schmerzhaft bleiben.
Wie nicht anders zu erwarten ist das Thema einer anderthalb Jahrzehnte andauernden, verfassungswidrigen Rechtspraxis gegen hunderttausende Bürger dieses Landes schneller aus den Medien verschwunden als warum Florian Silbereisen letzte Woche auf der Bühne geweint hat.
Wirklich nur 30 Prozent Minderung?
Ich mag ja Schwierigkeiten beim Textverständnis haben, aber ich lese das Urteil der Bundesverfassungsrichter nicht so optimistisch wie Prof. Sell. So findet sich im Urteil sogar eine Fallbeschreibung für eine weiterhin mögliche vollständige Kürzung einschließlich der Krankenkassenbeiträge, die ich hier wiedergegeben habe.
Interessant an dem Artikel ist allerdings das Stichwort "Maßnahmen": Ich warte jetzt darauf, dass sich ein Alg-II-Bezieher findet, der psychisch und finanziell in der Lage ist, die Zulässigkeit einer Maßnahme gerichtlich prüfen zu lassen, die erkennbar nicht zur (Wieder)Eingliederung in den Arbeitsmarkt führt und die auch nicht mit "Heranführung" an diesen gerechtfertigt werden kann ...
Sie haben den Kern des Problems erfasst. Wer wie ich Gelegenheit hatte, auch nur über den Zeitraum weniger Monate die Arbeit eines Jobcenters zu "begleiten", kann schnell beobachten, dass Sanktionsverhängung und andere Formen der Herabsetzung in überdurchschnittlichem Maße an denen ausgelebt werden, die psychisch (und mitunter auch körperlich) weder in der Lage sind, vorhandene Rechtsmittel zu nutzen (geschweige denn auszuschöpfen) noch in der Lage sind, sich gegen die Folgen dieser Maßnahmen zu stemmen. Diese "Begleitung" in Form eines Ehrenamtes dauerte bei mir nur ca. 7 Monate, bei Beratungstätigkeit an einem tag pro Woche - ich habe allein in dieser Zeit mehrere Personen sanktionsbedingt in die Obdachlosigkeit "begleiten dürfen", ohne noch etwas ausrichten zu können, weil jeweils Konsequenzen nicht erkannt und Fristen verpasst worden sind.
Sanktionen erzeugen keine Motivation, und keine Änderung von Verhalten - Sanktionen erzeugen Wohnungslosigkeit, Hunger und gesundheitliche Ruinierung, sprich: Elend.
Denen, die Sanktionen befürworten, kann man hölchstens zugutehalten, dass sie dies - vielleicht zumindestrotzdem in Ordnung findet, ist ein Verbrecher.
Stichwort „Eigenverantwortlichkeit“ und „Fördern und Fordern“ bei H4:
Eigenverantwortlichkeit unterstellt hier, dass man überhaupt über die Mittel verfügt eigenverantwortlich zu handeln und genau das ist frech gelogen. Die Behauptung von Eigenverantwortlichkeit streicht die Konkurrenz der „Arbeitsmärkte“ durch, bei der es immer und notwendigerweise Verlierer geben muss. Die Leugnung der Konkurrenz ist die dreist-selbstverständliche Grundlage dieser Propaganda der Eigenverantwortlichkeit.
„Fördern und Fordern“ verortet den Missstand im Individuum. Wenn jemand gefördert werden muss, bedeutet das in diesem Sinne dass er untauglich sei. Das ist ein klarer Rassismus im übertragenen Sinn, weil eine unerfüllte Anforderung an ihn als seine Eigenschaft behauptet wird. Das „Fordern“ ist eine ziemlich unverschämte Zumutung, weil es unterstellt, derjenige von dem man etwas Einfordern will, sei selbst unwillig. Dem Gehalt nach ist es eine vornehme Umschreibung von Zwang: Da du nicht leistungsbereit bist, müssen wir als staatliche Behörde die Leistung von dir abfordern. Und wenn du die Leistung nicht bringst dürfen wir dich Sanktionieren. Das ist nichts anderes als Zwang. Und dieser Zwang wurde vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt. Also von wegen Eigenverantwortlichkeit. Das Urteil des Staates über die Hartz IVer ist vielmehr: Eigenverantwortlichkeit funktioniert bei euch nicht, sonst wärt ihr nicht arbeitslos und weil ihr nicht eigenverantwortlich seid, dürfen wir euch zwingen.
Sehr weit ist das von dem Rassismus der amerikanischen Sklavenhalter nicht entfernt. Da wird genauso der Unwille zu arbeiten als Wesensmerkmal der aus Afrika entführten Menschen betrachtet, weswegen der Afrikaner einen Herrn braucht, der seinen fehlenden Willen zum Arbeiten herbei zwingen muss. Also erfordert die Arbeitsverweigerungsnatur des afrikanischen Sklaven, einen Sklavenhalter, der den (fehlenden) Willen des Sklaven erzwingen muss, um diese Verweigerungshaltung zu brechen.
Als behördliche Master der staatlich ausgelesenen und durchsortierten Billigarbeiter machen sie sich - wie ihre großen Vorbilder aus vorausgegangenen Sklavenhaltergesellschaften - gleich selber daran, den fehlenden Willen ihrer Klientel auf die Sprünge und ihrer Natur zu ihrem Recht zu verhelfen. Und wo das nicht klappt, ist dann von psychisch Defekten, kranken Asozialen und Kriminellen die Rede.
So finster ist die demokratische Armutsverwaltung auf Basis von Hartz IV.
Ich wußte noch gar nicht, dass die Würde in % zu berechnen ist.
Wieviel % schreibt sich diese Richterkaste selbst zu?
Handelt es sich um die Drittelung der Ethik? Anstand, Moral, Verantwortung = Ethik oder Forderung, Zuchtrute = Fallbeil der Justiz? Das ist im Ergebnis eine seelenlose Justiz.
Die Jobcenter sind weiter der lange Arm der AG, die ihre Unkosten der Löhne nach unten steuern und lediglich nur Leistung fordern. Und Fördern, was soll das sein?
Die SPD muß sich dem Wiederaufbau und Erhalt des Kerns ihrer humanen Vorstellung des Menschenbildes stellen.
Sanktionen sind nichts anderes als Tatwaffen ohne einen Funken Würde des Senders.
Zustimmung. Die Politik u. Arbeitsämter waren immer der Büttel der AG.
Der Gesetzgeber legalisiert die würdelose Behandlung in den JC. und zerstört Leib und Seele vieler Betroffenen. Im Umkehrschluss ist der Gesetzgeber der erste Täter.
Zustimmung. Die Politik u. Arbeitsämter waren immer der Büttel der AG.
Der Gesetzgeber legalisiert die würdelose Behandlung in den JC. und zerstört Leib und Seele vieler Betroffenen. Im Umkehrschluss ist der Gesetzgeber der erste Täter.
: „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren.“