Fallschirm statt Gratissaft

Insolvenz Netter als Ryanair und nicht so teuer wie die Lufthansa: Mit Air Berlin ist ein Paradebeispiel für die Möglichkeiten des freien Marktes nach 1989 gescheitert
Ausgabe 35/2017

Es war keine große Überraschung, als Deutschlands zweitgrößte Fluggesellschaft Air Berlin Mitte August Insolvenz anmeldete. Über die Gründe ist viel geschrieben worden: keine klare Konzentration auf ein Kerngeschäft, die Abhängigkeit von schwer kalkulierbaren Geldgebern aus einer arabischen Kleinstmonarchie, Berlins Unfähigkeit, einen Flughafen zu bauen. All das ist richtig, greift aber zu kurz.

Anders als Schlecker, Opel oder Karstadt war Air Berlin kein Unternehmen, das im „Rheinischen Kapitalismus“ der alten Bundesrepublik groß geworden war. Im Gegenteil: Air Berlin galt als grandioses Beispiel für die Möglichkeiten, die der freie Markt nach 1989 bot. Eiserner Vorhang, Sozialismus, Lufthoheit der Alliierten über Berlin – all das war Schnee von gestern, und 1991 konnte ein ehemaliger Gepäckverlader, Studienabbrecher und Roadie von Marius Müller-Westernhagen eine Airline gründen, die innerhalb nur weniger Jahre zur Nummer zwei hinter der Lufthansa wurde.

Wer in den goldenen Jahren der Air Berlin, zwischen 1992 und 2011, mit der Fluggesellschaft unterwegs war, kann sich noch gut an die hemdsärmeligen Kolumnen von Gründer und Boss Joachim Hunold im Bordmagazin erinnern, das praktischerweise stets neben den Kotztüten lag. Wir brauchen keine Gewerkschaften, bei uns fühlen sich alle wohl – so ähnlich lautete das Credo des Chefs, der auf Betriebsfeiern Freibier ausschenkte und gegen Betriebsräte und „grüne Tussis“ die Backen aufblies.

Letztlich war das aber nur Kraftmeierei. Die knallharte Dumpingstrategie von Ryanair wie Easyjet konnte oder wollte Hunold nie durchsetzen. Anders als bei den echten Billigfliegern fühlte man sich bei Air Berlin nie wie im fliegenden Rumpelbus. Gratis-Kaffee, Tomatensaft, Schokoladenherzen, Wasserbälle und Buntstifte für kleine Passagiere waren jahrelang selbstverständlicher Bestandteil der Air-Berlin-Reisekultur. Und auch wenn ihm Betriebsräte und Gewerkschaften zuwider waren „wie Schalentiere auf dem Teller“, schloss Hunold 2007 Tarifverträge für Flugbegleiter und Piloten.

Die Löhne waren bescheidener als bei der Lufthansa, aber um Lichtjahre besser als bei den wirklich turbokapitalistischen Konkurrenten. So stand Air Berlin für den Versuch, eine Fluggesellschaft zwischen den auf Sozialdumping und Geiz-ist-geil-Irrsinn gründenden Low-Cost-Carriern und den von reichen Business-Kunden lebenden Premium-Airlines zu etablieren.

Dieser Versuch ist gescheitert. In den letzten 25 Jahren ist es zu einer Polarisierung im Luftverkehr gekommen, die für ein solches Modell keinen Platz mehr lässt. Ryanair und Co. ziehen alle Register, um die Lohnkosten zu drücken. Piloten und Kabinenpersonal werden zu schlechtesten Bedingungen und windigsten Vertragskonstruktionen auf einem globalen Arbeitsmarkt rekrutiert – eine „Billigflaggenstrategie“, die in der Handels- und Kreuzfahrtschifffahrt seit vielen Jahrzehnten gang und gäbe ist. Auf der anderen Seite setzen Premium-Airlines wie Lufthansa oder British Airways auf zahlungskräftige Business-Kunden, für deren Arbeitgeber der Ticketpreis ohnehin kein Thema ist.

Wo bleibt die Fantasie?

Die Air-Berlin-Pleite steht auch für die Erosion der Mittelschicht, die in Wahrheit vor allem eine Folge des neoliberalen Angriffs auf die gewerkschaftlich erkämpften Errungenschaften der Arbeiterklasse ist. Zwischen sozialem Abstieg eines Großteils der lohnabhängig Beschäftigten, Rette-sich-wer-kann-Mentalität eines verrohenden Bürgertums und schamloser Bereicherung der Superreichen ist der Platz für halbwegs komfortables, menschenwürdiges Reisen und halbwegs anständig bezahlte Tarifjobs gleichermaßen eng geworden.

Politisch geht es um weit mehr als die Frage, ob ein 150-Millionen-Kredit zur Überführung der Air-Berlin-Filetstücke in den staatlich protegierten Monopolisten Lufthansa gerechtfertigt und ein 4,5-Millionen-Fallschirm für den Air-Berlin-Chef Thomas Winkelmann moralisch vertretbar ist. Muss der Flugverkehr wirklich immer weiter wachsen? Muss man für 9,99 Euro irgendwohin fliegen können? Muss der Flugverkehr privatwirtschaftlich betrieben werden, wenn es doch offensichtlich ist, dass dieser angeblich freie Markt nur mit massiver staatlicher Unterstützung, durch legalisierten Raubbau an unseren ökologischen und sozialen Existenzgrundlagen funktioniert? Sind wir so fantasielos, dass wir uns nachhaltige Mobilitätsalternativen unter demokratischer und öffentlicher Regie nicht mehr vorstellen können?

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