Wenn es nach den üblichen Bekenntnissen ginge, müsste derzeit nichts so hoch im Kurs stehen wie Innovation und Kreativität. Sieht man sich hingegen die aktuellen politischen Debatten an, so sticht die Dominanz altbekannter Formeln hervor. Kaum stauchen die führenden Wirtschaftsinstitute ihre Prognosen nach unten, sind erste Forderungen nach einem Lohn- und Ausgabenstopp zu hören. Weder der Staatshaushalt noch die Unternehmen könnten angesichts einer solchen Lage höhere Belastungen vertragen. In solchen eher reaktiven als deliberierten Politikempfehlungen verbindet sich ein eingeengter Interessenhorizont mit eingeschliffenen Denkschablonen, wie Kanzler Schröder zur Eröffnung der Hannover-Messe erkennen ließ. Dabei gäbe es genug Anlass, manche als unerschütterlich geltende ökonomische Regel zu relativieren. Dass etwa der Kurs des Euro relativ zum Dollar steigen müsste, wenn die Zinsdifferenz zwischen Euro- und Dollarraum schwindet, klingt ja plausibel. Doch die Finanzmärkte kümmern sich wenig um die reine Lehre und beantworten die harte Politik der EZB, die entgegen allen Erwartungen die Zinsen unverändert lässt, mit weiterer Entwertung des EU-Währung.
Selbst die Absenkung des US-Zinsniveaus, mit der Fed-Chef Alan Greenspan gerade aufwartete, vermochte dem Euro nur insofern zu helfen, als dieser Schritt hoffen ließ, endlich die Hartleibigkeit der europäischen Währungshüter überwinden zu helfen. Aber die Amerikaner dürfen weiter - um eine populäre Phrase zu zitieren - "über ihre Verhältnisse leben", das heißt mehr konsumieren als produzieren und sich dabei verschulden, ohne dass dies ihre Währung ins Schleudern brächte. Auch die Versicherung, dass in all dem nur noch einmal die Überlegenheit des US-Modells - darunter wäre eben die Kombination aus entfesselter Marktwirtschaft und High-tech-Optimismus zu verstehen - sichtbar würde, bietet kaum Ansatzpunkte für Einsichten oder gar Handlungsperspektiven, da sie mehr auf ein vorgebliches Wunder denn auf rational nachvollziehbare Prozesse verweist.
Kehren wir noch einmal zu den revidierten Wachstumsprophezeiungen zurück: Den entscheidenden Grund der gedämpften Erwartungen für Europa - ganz besonders für Deutschland - sehen die Wirtschaftsforscher in der nach wie vor schwachen, sich weiter abschwächenden Binnenkonjunktur oder anders ausgedrückt: der zu starken Exportabhängigkeit Europas, vor allem Deutschlands. Der Aufschwung in den zurückliegenden Monaten war entscheidend vom Export getrieben, daraus resultiert jetzt seine Fragilität angesichts einer nachlassenden US-Konjunktur. Deren Motor war expandierender privater Verbrauch, sicher nicht der gesamten Bevölkerung, sondern der immer noch recht zahlreichen Bürger, die sich - nicht zuletzt dank eines hoch bewerteten Aktienbesitzes - zumindest wohlhabend fühlen dürfen. Dem stehen eine private Verschuldung und ein Außenhandelsdefizit gegenüber, die einsame Höhen erklommen haben und weiter erklimmen. Das Modell Deutschland mit seinen strukturellen Außenhandelsüberschüssen stellt dazu nicht nur ein Gegenbild, sondern dank fortschreitender Umverteilung von unten nach oben - die wie der Deckel auf den Topf passende - weltwirtschaftliche Ergänzung dar. Irgendwo müssen schließlich die Mittel herkommen, die das US-Defizit kompensieren: Von denen eben, die das Geld anlegen können, das den anderen zum Konsumieren fehlt und dessen Volumen dank kontinuierlicher Umverteilung gewaltig wuchs. Es ist vor allem der Zufluss dieser, nach einem sicheren Hafen suchenden Finanzmittel, der den Dollarkurs hoch hält. Unterkonsum hier und Überkonsum dort sind nur die beiden Seiten desselben Sachverhalts: eines weltwirtschaftlichen Ungleichgewichts mit Krisenpotenzial. Die Krise des Modells USA gefährdet deshalb auch das Modell Deutschland. In der immer noch schwachen Binnennachfrage und dem Zurückbleiben der Löhne hinter der Produktivitätsentwicklung liegt die wirkliche Gefahr für die Konjunktur in Deutschland. Denn auch im europäischen Vergleich erfreut sich die deutsche Industrie einer ungemein günstigen Entwicklung der Lohnstückkosten. Das daraus resultierende Ungleichgewicht ist für Oskar Lafontaines Ex-Staatssekretär Heiner Flassbeck Anlass, vor einer Entwicklung zu warnen, die auf europäischer Ebene das Muster der deutschen Vereinigung wiederholt: ein erbarmungsloses Niederkonkurrieren der Peripherie.
Die Korrektur der sozialen Ungleichgewichte bildet daher auch den wichtigsten Ansatz zur Korrektur der europäischen und weltwirtschaftlichen. Die Gewerkschaften hätten da viel zu tun, doch die Mission erreicht sie in keiner günstigen Situation: Was der doppelte Nasenring langfristiger moderater Tarifabschlüsse aus den vergangenen Jahren und des Bündnisses für Arbeit noch zulässt, werden wir sehen. Dass der DGB jetzt schon versucht, die Einzelgewerkschaften auf die Linie vorgeblicher staatsmännischer Vernunft zu bringen, lässt wenig Gutes ahnen.
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