Falsche Gedanken

Debatte Nacktheit ist heute immer noch ein Tabu, das beweist nicht nur die Diskussion um Ganzkörper-Anzüge bei Olympia. Wird alles immer prüder?
Ausgabe 31/2021
Das Nacktheitstabu reicht tief in den Alltag der Menschen und ihr öffentliches Dasein hinein und reglementiert ihn
Das Nacktheitstabu reicht tief in den Alltag der Menschen und ihr öffentliches Dasein hinein und reglementiert ihn

Foto: Geoffroy van der Hasselt/AFP/Getty Images

Im Jahr 1932 erließ das preußische Innenministerium eine „Badepolizeiverordnung“, nach der Frauen nur öffentlich baden dürfen, „falls sie einen Badeanzug tragen, der Brust und Leib an der Vorderseite des Oberkörpers vollständig bedeckt, unter den Armen fest anliegt sowie mit angeschnittenen Beinen und einem Zwickel versehen ist“. Dieser „Zwickelerlass“ blieb erfolglos. Der polizeiliche Blick in den Schritt war nicht durchsetzbar.

Der Hang, die Kleidung von Frauen aus vorgeblich sittlichen Gründen zu reglementieren, ist also nicht neu. Heute nun erregen die nackten Beine von Sportlerinnen das öffentliche Gemüt. Wieder die Frage: Bedecken oder nicht? Gehofft wird nun, dass durch die Bedeckung – wie es in der Leipziger Volkszeitung heißt – „falsche Gedanken“ vermieden werden. Was immer mit „falschen Gedanken“ gemeint sei: Selbst wenn eine Frau ganzkörperbedeckt ist, sind wüste Vorstellungen aller Art nicht ausgeschlossen. Je verhüllter, umso kräftiger. Nacktsein an sich wirkt nicht sexuell aufreizend. Die Erregung stellt sich durch die Beziehung in der intimen Situation ein, durch Verführung, durch Fantasie ... Ein steifes Glied am FKK-Strand ist dagegen ein eher seltenes Ereignis. Es kommt auf den Kontext an: In einem Anatomielehrbuch ist das steife Glied kein Grund für Aufregung, bei einem Entblößer ein öffentliches Ärgernis, beim Arbeiten hinderlich, beim Sporttreiben ablenkend, in einer indischen Skulptur Kunst, als afrikanische Fruchtbarkeitsfigur ein Symbol, in einem Pornoheft normal, in der intimen Situation erfreulich, für den Geschlechtsverkehr notwendig.

Auf der einen Seite wird ein Kampf um die eigene Nacktheit geführt, um eine Art gleiches Recht auf Nacktheit. Die „Oben-ohne“-Aktivität flammt wieder auf: Wenn Männer obenrum nackt gehen, sollten das auch Frauen dürfen und tun. Denn: „Alle Nippel sind gleich“, liest man im nd. Darin steckt – im Sinne von Emanzipation – etwas Wahres, aber auch biologischer und sichtlicher Unsinn. So nackt wie heute waren die Jüngeren nie. Haare, die unterhalb des Kinns wachsen, werden als eklig empfunden. Schon in unserer deutschlandweiten Studie Studentensexualität 2012 sagten 94 Prozent der weiblichen und 95 Prozent der männlichen Studenten, dass sie Beine und Achselhöhlen enthaaren und Brusthaare entfernen. Die äußeren Genitalien werden freigelegt. Diese moderne Entblößung steht auf der anderen Seit windschief zur zunehmenden Nacktheitsscheu. Der Anteil echter FKK-Fans ist enorm gesunken.

Letztlich geht es bei dem medialen Bohei nicht einfach um Mädchenbeine, Kleiderordnungen, „falsche“ (= männliche) Fantasien, sondern um mediale Deutungshoheit und eine Verschärfung des Nacktheitstabus im Gewande des Schutzes und der Achtsamkeit. Dieses Nacktheitstabu reicht tief in den Alltag der Menschen und ihr öffentliches Dasein hinein und reglementiert ihn. Es bedeutet eine Machtausübung über das Private und eine Kontrolle des Leiblichen. Die Körperstellen, die für das sexuelle Agieren notwendig und im sinnlichen Austausch wunderbar sind, werden durch Kleidung eingesperrt, als ginge von ihnen Gefahr aus. Dicht ist der Schleier, der über Heuchelei, Doppelmoral, Geschäft, Prüderie, Verklemmtheit und Sexualfeindlichkeit liegt.

Kurt Starke ist Sexualwissenschaftler und veröffentlichte 2017 Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland

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