Es gibt ein Belfast, das trinkt und tanzt, als gäbe es kein Morgen. An einem Donnerstag kurz nach eins kommt das Publikum in der Shoe Factory richtig in Stimmung. Auf einem Podium bewegt eine Drag Queen die Hüften. Der junge Mann im weißen Cocktailkleid sieht ramponiert aus wie nach einer Schlägerei. Es scheint ihm egal zu sein. „Das ist Nordirland“, sagt ein Mann mit rasiertem Schädel und Ohrringen. „Wir sind nicht perfekt, aber cool.“ Wie er heiße, spiele keine Rolle. „Nenn mich einfach Mike.“ Ist er Protestant oder Katholik? Er zuckt mit den Schultern. „Nenn mich Mike“, wiederholt er, um dann zu sagen: „Noch vor zehn Jahren mussten wir zum Feiern in den Keller gehen. Es gab keine Clubs im Stadtzentrum, d
Falscher Frieden
Nordirland Kurz vor der Marschsaison des Oranier-Ordens befürchten Protestanten und Katholiken eine Welle der Gewalt. Und sie haben Grund dazu
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Ausgabe 28/2013
, dafür Checkpoints, die nachts geschlossen blieben.“Heute ist in Belfast das Nachtleben dort eingezogen, wo noch vor einigen Jahren britische Soldaten einsam Patrouille gingen. Tagsüber sind Geschäfte und Cafés so gut gefüllt wie nachts Pubs und Bars. Doch das Ausgehen in dieser Stadt kennt seine eigenen Regeln. Eine wachsende Zahl von Nordiren tanzt und trinkt mittlerweile zusammen, auch wenn längst nicht über alles gesprochen wird. „Wo kommst du her?“, „Wie heißt du?“: Solche Fragen sind mehr, als es den Anschein hat, und können die Laune verderben. „Niemand muss gleich deinen Familiennamen kennen“, findet Mike. Weil der vielleicht verrät, wer Protestant ist und wer nicht?Steine und BombenMike kehrt mit einem Drink zurück auf die Tanzfläche. Neben ihm verrenken sich Hipster, höchstens Anfang 20. Das heißt, sie erinnern sich an die Zeit vor dem Friedensabkommen von 1998 nur noch als Kindheitsmuster. Ihr Belfast der Boheme will über nichts anderes reden als über sich selbst. Katholik oder Protestant, im Gedränge der Körper ist das egal. Immer wieder spielt der DJ Lady Gagas Schwulenhymne aus dem Vorjahr. „Baby, I was born this way“, kracht es aus den Boxen. Das Publikum pfeift vor Begeisterung.Nur einen halben Kilometer entfernt vom Cathedral Quartier im Stadtzentrum hat für Ian Ogle der Krieg niemals aufgehört. Die Front sei geblieben, sagt er, und verlaufe direkt hinter seinem Grundstück. Seine „Front“, das ist ein Monstrum aus Stein und Metall, das wie der Turm zu Babel immer mehr wächst. Noch aus der Zeit des Bürgerkrieges stammt eine meterhohe Backsteinmauer. 2002 flogen Granaten darüber hinweg. Deshalb wurde ein Metallwall auf die Backsteine gesetzt. Doch davon ließen sich die Heckenschützen nicht stören. Zuletzt hätten sie sein Viertel von einer katholischen Kirche in Shortstrand aus unter Beschuss genommen, erzählt Ian Ogle. Inzwischen gibt es noch einen Gitterzaun auf dem Metall. Eigentlich unsinnig, er wird die Kugeln nicht aufhalten. „Wir leben im Belagerungszustand. Jederzeit kann etwas passieren“, ist Ogle überzeugt, der Tag für Tag mit einem schwarzen Plastikeimer in der Nachbarschaft herumgeht und „Beweise“ sammelt. Scharfe Metallteile zum Beispiel. „Wenn ein Kind damit getroffen wird – was dann?“ Ogle macht kein Hehl aus Sympathien für die Protestantenmiliz Ulster Defence Association (UDA). Sie hat im Stadtteil Cluan Place das Sagen. „Die Polizei hilft uns nicht, also müssen wir uns selbst verteidigen.“ Ja, natürlich, die Bewohner von Cluan Place würden Steine oder Benzinbomben zurückwerfen, falls etwas von der anderen Seite käme. „Das ist eben so im Krieg.“Die Stimmung in Nordirland hat sich nach den Unruhen im Winter gedreht, besonders in den protestantischen Teilen von Belfast. Die Beziehungen zwischen den katholischen und den protestantischen Vierteln entlang der Friedenslinien sind wieder frostiger. Zwischen Cluan Place und dem katholischen Shortstrand, erzählen Bewohner, werde es immer unruhiger. Eigentlich sollte in einer solchen Lage die Stunde der sogenannten Friedensindustrie Nordirlands schlagen. Immerhin wurden mit Geldern aus London viele Nordiren zu Sozialarbeitern ausgebildet, die sich der Versöhnung widmen. Aber gerade die Protestanten-Community boykottiert seit dem Streit um das Hissen des Union Jacks auf dem Rathaus von Belfast den interkonfessionellen Dialog. Jugendliche werden unter Druck gesetzt, nicht mehr an Projekten teilzunehmen, die beide Volksgruppen annähern sollen. Paramilitärs führen das große Wort. Und das zählt vielerorts mehr als jeder Friedensappell der nordirischen Regierung.Auch 15 Jahre nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs erweisen sich die Parallelstrukturen in Belfast und einigen ländlichen Regionen als erstaunlich resistent. Es kursieren Gerüchte von einem Treffen der nordirischen Polizei mit den Anführern der Parteien. Es sei mit einem Einmarsch der britischen Armee wie 1969 gedroht worden, heißt es aus IRA-nahen Kreisen. Dies grenze an Erpressung.Halb voll oder halb leerEs war ein kalter Wintertag im Dezember 2012, an dem Paula Orr den Glauben an die Versöhnung verloren hat. Sie verließ gerade ihr methodistisches Gemeindezentrum, das sich seit Jahren interkonfessioneller Jugendarbeit widmete, und sah einen Aufmarsch. Eine Gruppe Jugendlicher mit Union Jacks zog an ihr vorbei, gepanzerte Fahrzeuge der Polizei hinterher. Bald flogen vor ihren Augen die Schlagstöcke. Ein junger Mann blutete am Kopf und wurde von den Polizisten fortgeschleppt.Vor einem Jahr bereits hatte die Stadtverwaltung von Belfast entschieden, dass in Nordirland – wie im übrigen Königreich üblich – die britische Flagge nur noch an bestimmten Tagen im Jahr gehisst werden sollte, etwa am Geburtstag der Queen und von Prinzessin Kate. „Ich habe mich am Anfang geweigert, auf Demonstrationen zu gehen. Das ganze Klima war so aufgeheizt“, erinnert sich Paula Orr. „Aber nachdem ich gesehen habe, was vor unserem Gemeindezentrum passiert ist, war mir klar, dass gehandelt werden musste. Es ging um unsere Identität und um Menschenrechte.“ Und dann stellt sie einen überraschenden Vergleich an. „Im Grunde geht es den Protestanten in Nordirland heute so wie den Katholiken vor 1969.“ Damals brach der Bürgerkrieg aus, nachdem Demonstrationen gegen die Diskriminierung der Katholiken in Gewalt und Chaos umschlugen.Heute sei es genauso, schwört Paula Orr. Nur eben mit vertauschten Rollen. Sie zählt auf, was sich aus ihrer Sicht seit dem Karfreitagsabkommen für die Protestanten verschlechtert hat. Eigentlich alles. „Die Katholiken haben mit ihrer Sinn-Féin-Partei zu viel Einfluss. Sie stecken das Geld in ihre Gebiete und lassen bei uns alles verkommen. Sie vergeben die Jobs an ihre Leute und wollen uns auch noch die Flagge nehmen.“ Paula Orr ist schwer erregt, hat rote Flecken auf den Wangen. Eigentlich sei sie ein gelassener Mensch und halte viel von Versöhnung. „Aber Frieden gibt es nur, wenn die Menschen Frieden wollen. Wenn sie Krieg wollen, gibt es eben Krieg.“Im Süden von Belfast an der Queens-Universität ist der Krieg, von dem Paula Orr spricht, weit weg. Auf dem akkurat geschnittenen grünen Rasen liegen die Studenten in der Sonne und dösen. Es ist ein Anblick, der Peter Shirlow gefällt wie alles, was in Belfast nach normalem Leben aussieht. Der Juraprofessor hat sich einen Namen als Analyst eines die Jahre und Jahrhunderte überdauernden Konflikts gemacht. Shirlow bleibt gelassen. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die protestantischen Milizen den Waffenstillstand wirklich aufkündigen wollen“, glaubt er. Damit gemeint sind Paramilitärs von der UDA oder den Ulster Freedom Fighters (UVF). Gewiss gebe es Scharmützel entlang der Friedenslinien, aber die habe es seit 1998 eigentlich immer gegeben. „Nur haben wir inzwischen nicht mehr 100 Tote im Jahr, sondern weniger als eine Handvoll. Der Mittelstand will Frieden, nur weiter unten versiegt der Hass eben nicht.“ Die Finanzkrise in Irland und Großbritannien treffe Nordirlands schwache Wirtschaft. Aber gäbe es nicht überall in Europa wieder mehr Separatismus?Dennoch glaubt der Protestant Shirlow nicht an eine ernsthafte Gefahr für den Friedensprozess. Die jäh erwachte Leidenschaft für den Union Jack bei einigen loyalistischen Ultras sei letztlich die hässliche Motzerei ungebildeter Schichten. „Für einige in den ärmeren Vierteln ist das Glas halb leer, für Leute wie mich ist es hingegen halb voll“, räsoniert Shirlow und schränkt ein. „Natürlich reichen schon ein paar Leute aus, um das Leben für die Mehrheit unerträglich zu machen.“Holzlatten und MüllEs ist ein normaler Arbeitstag für Sean Montgomery, den Streetworker an der Friedenslinie zwischen der katholischen Falls Road und der protestantischen Shankill Road. Montgomery ist viel mit dem Auto unterwegs auf beiden Seiten des Sperrwalls, der an dieser Stelle undurchdringlicher ist als anderswo in Belfast. Ein Tor trennt die Quartiere. Tagsüber kann man hindurch, nachts ist es geschlossen. Montgomery hat einst für die IRA gegen unionistische Milizen gekämpft und saß dafür jahrelang in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis. Nach 1998 sattelte er um auf eine Karriere in der Friedensindustrie. Es herrsche leider ein falscher Frieden, das werde man sehen, wenn in wenigen Tagen die Marschsaison beginnt und der protestantische Oranier-Orden durch die katholischen Viertel zieht, um an die Niederlage der Katholiken unter Jakob II. in der Schlacht am Boyne 1690 zu erinnern. Diese Umzüge sind immer eine Provokation und bestens geeignet, Gewaltbereite anzustacheln.Montgomery steuert sein Auto in eine Straße, die von einer Barrikade blockiert ist. Er muss wenden, weil Holzlatten und Müll zu einem Haufen aufgeschichtet sind, darauf die britische Flagge. „So schotten sich die Protestanten ab an Stellen, an denen es noch keine Friedensmauern gibt“, erklärt er und muss scharf bremsen. Die Straße ist schon wieder gesperrt, diesmal durch gepanzerte Wagen der nordirischen Polizei. Männer mit Maschinenpistolen rennen zu einem Hauseingang. „Eine Razzia“, sagt Sean Montgomery. Es klingt gelassen. Vielleicht weil er solche Bilder seit Jahrzehnten kennt. Es ärgert ihn, dass Akademiker wie Peter Shirlow dafür die Unterschichten verantwortlich machen. Die treffe keine Schuld, seien sie doch durch Angst und Armut zu einem Leben in ihren Parallelwelten verurteilt. „Im Moment verlieren eben auch viele Protestanten ihre Jobs und schieben es auf uns Katholiken statt auf die verdammten Banken.“ Montgomery würde sich wünschen, dass die Working Class in Belfast Seite an Seite auf die Straße geht. Danach sieht es 15 Jahre nach dem Friedensabkommen weniger aus denn je.
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