„Familie ist wie Mafia“

Interview Andreas Maier hat Verwandtschaft als ständige Selbstvernichtung erlebt und fühlt sich eher bei Gott zu Hause
Ausgabe 24/2019

Seine Heimat ist die hessische Wetterau und zu ihr hat der Erzähler ein inniges und kompliziertes Verhältnis: Immer wieder kreist der 1967 geborene Andreas Maier in seiner auf 11 Bände angelegten Erinnerungschronik „Ortsumgehung“ um die Orte seiner Kindheit und Jugend; zuletzt, im Band Die Universität, hat er seine Frankfurter Studentenzeit in den 1990er-Jahren hochkomisch (und melancholisch) erinnert.

Sein neues, diese Tage in den Handel kommendes Buch Die Familie schlägt ein Kapitel auf, das den bei seinen Lesern bekannten und geliebten Mikrokosmos der Familie überraschend erweitert. Es geht um eine Schuld, die sie während der Nazi-Zeit auf sich genommen hat, konkret um die Übernahme der Steinbruchfirma eines jüdischen Eigentümers. Auch darüber wollten wir mit dem Autor reden.

Dienstagmittag in Frankfurt-Sachsenhausen, Maiers langjährige Heimat bis er seiner Frau wegen nach Hamburg zog. Bei „Schorsch“ hängen vergilbte Gardinen vor den Fenstern. Maier bestellt ein kleines Export. Drei weitere folgen. Alle in der Kneipe qualmen, Maier nicht.

der Freitag: Herr Maier, an was glauben Sie?

Andreas Maier: Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Letztlich an den lieben Gott, ja.

Glauben Sie mehr an ihn als an den Zustand, dass wir hier sitzen?

An das Raum-Zeit-Kontinuum, in dem wir hier gerade Bier trinken, glaube ich tatsächlich nicht so sehr.

Warum zweifeln Sie daran?

Ich war etwa zehn, als ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass ich mir das, was ich erlebe, vielleicht nur ausdenke. Ich lag damals auf dem Bett herum. Das war sozusagen meine solipsistische Grunderfahrung.

Was lässt einen jungen Menschen zum Solipsisten werden?

Für mich als Jugendlichen wurde das Weltgewebe zeitweise richtig löchrig, ich sah Schwarz dahinter, das Nichts. Eine mystische Erfahrung. Manchmal halte ich seitdem meine Person für eine kurzzeitige und lächerliche Behauptung. Und ein paar Sekunden im Monat gibt es sogar, in denen ich weitgehend bei Gott bin. Also beim Nicht-Nichts. Beim Ja.

Ist das ein Glücksmoment?

Nein, Glück ist dagegen zu weltlich. Ein Glücksmoment war der Pokalsieg von Eintracht Frankfurt. Das hat mit dem lieben Gott nichts zu tun.

Wann sind Sie zufrieden?

Ich bin selten zufrieden. Sie?

Aber der Erfolg bewahrt Sie vor der normalen Alltäglichkeit?

Ich kenne viele Menschen, die meine Arbeitsbedingungen nicht aushalten würden. Vielleicht gehe ich deswegen so oft in die Kneipe, um mir einen Feierabend zu simulieren. Die Texte gären immer in mir und überfallen mich dann ab und an. Wenn ich dann in einer Arbeitsphase bin, kann ich draußen vor anderen Menschen oft nur noch lallen.

Was macht Ihnen Angst?

Fast alles. Schauen Sie auf die Straße, auf den Verkehr, die Aggression der Leute in nahezu allen ihren Handlungen. Stehen sie mal hinter einer Kurve. Stehen Sie da mal einfach. Innerhalb von wenigen Sekunden sind sie gehimmelt. Das ist hier ganz normal. Wobei das Auto ja nur ein Beispiel ist.

Warum sind Sie so ein einsamer Mensch?

Wie kommen Sie denn darauf?

Sie sitzen oft in Apfelweinwirtschaften, wie man liest, wie wichtig ist Ihnen denn Alkohol?

Es ist ein zweiter Todesweg, neben dem natürlichen. Und er bedeutet Genuss, natürlich im Sinne von Gula, Schlund, Rachen. Die Gespräche in Apfelweinwirtschaften sind überdies angenehm nichtssagend.

Ihr neuester Band der Ortsumgehung heißt „Die Familie“. Der Inhalt nimmt den Titel wörtlich.

Naja, wer ist meine Familie? Das fragt sich ja auch Jesus, als seine Mutter und seine Schwestern vor den Toren auf ihn warteten.

Sie sind aber nicht Jesus!

Auf mich wartet ja auch keiner. Meine Familie war immer eine sehr problematische Familie. Auch hinsichtlich einer ständigen Selbstvernichtung, bis in die eigenen Erinnerungen. Dann komme ich, der so wenig mit Familie zu tun hat, und schreibe eine Art von Bewahrungsentwurf mit der „Ortsumgehung“.

Was hat Ihnen Ihre Familie gegeben?

Das übliche. Sie hat mir viel Lügenhaftes implementiert. Mein Bruder war für mich ein ziemliches Vorbild. Er machte von Anfang an nicht mit und log nie.

Kann eine Familie denn ohne Lügen funktionieren?

Ich denke nicht. Eine Familie ist ein Machtgefüge, wie ein Nationalstaat. Nach draußen wird Krieg geführt, innen wird die Machtverteilung geregelt. Das unterscheidet sich von einem Mafiaclan nur durch die Ausmaße. Die Logik und Mechanismen sind sehr ähnlich.

Ihr Bruder ist fünf Jahre älter.

Ja. Wir verstehen uns gut. Meine Bücher nennt er allerdings immer „so lau wie halbstilles Mineralwasser“. Er ist sehr politisch.

Ist jemand aus Ihrer Familie stolz auf Ihre Leistung?

Nein, warum? Wen es seltsamerweise stolz macht, ist meine Schwiegermutter. Meine Mutter war von Anfang an neidisch. Die musste dann auch Bücher schreiben, wurde mir erzählt.

Zur Person

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und promovierte über Thomas Bernhard. 2006 trat Andreas Maier die Frankfurter Poetikdozentur an. Seit 2014 ist er mit der Theologin Christine Büchner verheiratet. Als seine größte literarische Referenz bezeichnet der Erzähler das Matthäus-Evangelium

Leben Ihre Eltern noch?

Ja, soweit ich weiß, schon. Kein Kontakt.

War das eine Befreiung?

Es war notwendig.

Der französische Psychoanalytiker Gérard Salem veröffentlichte ein Buch mit dem Titel „Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst“. Können Sie das?

Ich finde es ziemlich kitschig, und wüsste auch gar nicht, was ich verzeihen soll. Man kann sich aus Systemen lösen, wenn es für beide Seiten nicht gut ist. Es hat nichts mit Schuld zu tun. Die halten mich sicherlich ebenso für einen total komischen Heini wie ich sie.

Das ist traurig, oder?

Nein. Ich habe scheiternde Familien stets viel lieber gemocht als funktionierende. Ich bin materiell gut durchgekommen, wurde nie geschlagen…

…und emotional gut behandelt?

Was die sich so gedacht haben, weiß ich doch nicht. Ich höre oft Geschichten von funktionierenden Familien, das kommt mir dann immer vor wie eine Märchenwelt. Vielleicht glaube die sogar daran.

Ihre Familie hat mit der Übernahme der Steinbruchfirma eines jüdischen Eigentümers in der Nazi-Zeit Schuld auf sich geladen ...

Bitte? Wo steht denn das? Was da wirklich passiert ist, keine Ahnung. Der Text kann nur vermuten. Die größte Schuldmöglichkeit liegt natürlich wie bei allen zwischen 1938 und 1940/42. Bis zum kompletten „Judenfrei“-Sein unseres Städtchens. Da ging viel hin und her.

Glauben Sie an Erbschuld?

Nein. Die Generation meiner Eltern war vollkommen überfordert. Sie gewöhnten sich zwingend psychologische Mechanismen an, die die Nachfolgegeneration im Unklaren ließen. Für mich und den Verlauf der „Ortsumgehung“ war das eine wichtige Erkenntnis. Ich bin lange in eine falsche Richtung gegangen.

„Die Familie“ erinnert an den Skandal um die Bahlsen-Erbin ...

Den Fall kenne ich nicht. Was mich und meinen Bruder erstaunt, ist unsere eigene Naivität. Wir wussten ja, dass über bestimmte Dinge nie gesprochen wurde und haben dennoch die Fakten nie grundlegend angezweifelt. Wenn wir fragten, reagierte die Familie wie Pawlowsche Hunde. Was für eine Leistung der Vorgängergeneration, selbst uns noch so zu manipulieren! Und unsere Eltern waren ja nicht mal Schuldige, die waren bei Kriegsende zehn.

Wie wird der nächste Band der „Ortsumgehung“?

Es wird Die Städte heißen. Das wird das Sex-Buch in der Reihe. Ein Buch nur mit Sex. Ich bin gerade dabei, mir erste Wortlaute zu erarbeiten.

Wann verzweifeln Sie beim Schreiben der Texte?

Ich denke in letzter Zeit immer, dass ich den nächsten Band nie zu Ende schaffen werde. Bei der Universität war ich lange ratlos, irgend etwas fehlte, dann kam urplötzlich Gretel Adorno in den Text. Um vierzehn Uhr ging das los, dann ging ich abends mit dem Laptop in die Apfelweinwirtschaft und war nachts um elf dort im Garten fertig. Eigentlich war dann das Buch fertig.

Beneiden Sie sonst die disziplinierten Autoren?

Hm, weiß nicht. Dann könnte ich ja nicht so oft in die Kneipe gehen.

Ist Ihr Zuhause Ihre Heimat, ist Ihre Frau Ihre Heimat, oder Ihre Familie? Oder Sie sich selbst?

Meine zweite Heimat ist Friedberg in der Wetterau, meine erste Heimat ist der liebe Gott. Und ein Leben ohne meine Frau stelle ich mir sehr schwer vor.

Sie fliegen nicht, Sie fahren nicht gerne Auto. Können Sie mir abstrakt erklären, warum nicht?

Ich fahre überhaupt kein Auto. Ich finde das grotesk. Mit Anfang zwanzig dachte ich mir auf der Autobahn: was machen wir hier überhaupt? Beim Fliegen werdet ihr in eine Konservendose gesteckt, und es gibt nicht einmal einen Fallschirm, nichts. Die ganze Zivilluftfahrt ist eine Unverschämtheit. Beim Militärflieger kommst du wenigstens raus. Klar, die haben ja auch Hunderttausende in deine Ausbildung gesteckt. Da bist du was wert.

Diese Einstellung limitiert die Möglichkeiten im Leben.

Sie befreit. Ich liebe Speisekarten, auf denen nur zwei Gerichte stehen.

Wo urlaubt Andreas Maier?

Ich mache keinen Urlaub. Schauen Sie, ich habe z.B. eine sehr intensive Verbindung zu Venedig, seit über vierzig Jahren aber das verdient die Stadt nicht, dass auch noch ich da hinfahren muss. Da latschen schon genügend durch, aus welchen Gründen auch immer. Das nennt sich Spätkapitalismus.

Könnte Andreas Maier heute noch so werden wie er wurde?

Warum nennen Sie mich denn dauernd beim Namen? Ich sitze doch vor Ihnen! Ich könnte nicht modularisiert studieren. Wir waren eine Ausnahmegeneration, die sich im Studium noch verirren und verlieren konnten. Überhaupt im Leben verirren und verlieren.

„Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt“, sagte Thomas Bernhard, über den Sie promoviert haben. Wie denken Sie darüber?

Über den Tod? Er sollte sich nicht zu lange hinauszögern. Vor dem Totsein habe ich keine Angst, und die Welt wird dadurch auch nicht lächerlich. Ich glaube seit langem, dass der Tod ein Aufwachen sein wird, eines in einer der hiesigen ziemlich ähnlichen Existenz. Im Traum war ich ja schon öfter tot.

Gönnen Sie sich als Schriftsteller eine kleine Attitüde?

Eine, weil ich Schriftsteller bin? Nein. Darauf bin ich noch nie gekommen. Die meiste Zeit bin ich allerdings gar kein Schriftsteller. Da habe ich dann meine Attitüden, das ja. Wie jeder.

Info

Die Familie erscheint am 17. Juni bei Suhrkamp (166 S., 20 €). Gleichen Tags liest er aus dem Roman in Frankfurt, AusstellungsHalle, Schulstr. 1a

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden