Dem Genre Biopic haftet per se etwas Peinliches an. Da wird ein Mensch, über dessen Intimleben man sowieso schon viel mehr weiß, als einem eigentlich zustünde, noch einmal „entblößt“, indem man ihn als jungen Mann beim ersten Blow Job zeigt. Oder in Szene setzt, wie derjenige, aus dem wenig später einer der berühmtesten Musiker des 20. Jahrhunderts wurde, mit viel Mühe erstmal das Banjospielen lernt. Oder gar, Gipfel der Peinlichkeit, wenn die Standardsituationen der Werkbiografie „reenacted“ werden: John meets Paul, ein 17-Jähriger mit Elvis-Tolle trifft auf einen 15-jährigen Milchbubi mit erstaunlichem Selbstbewusstsein; schon bald reden sie darüber, dass man seine eigenen Songs schreiben müsste, et voilá, das Dreamteam ist geboren. Das Seltsame an Sam Taylor-Woods Film Nowhere Boy über die Jugend John Lennons ist nun, dass das alles zwar vorkommt, man sich zugleich aber in einem ganz anderen Film wähnt.
Dieser Film handelt gewissermaßen gar nicht von John Lennon, sondern von irgendeinem Jugendlichen (Aaron Johnson) im Liverpool der fünfziger Jahre, der wie alle anderen in Schuluniform zum Unterricht geht und danach mit Freunden rauchend auf der Straße steht, um vorübergehende Mädchen mit flotten Sprüchen einzudecken. Die Verhältnisse, aus denen er kommt, sind, was man wohlgeordnet nennt, auch wenn er statt bei den eigenen Eltern bei Onkel George (David Threlfall) und Tante Mimi (Kristin Scott Thomas) aufwächst. Dann stirbt der Onkel, und bei der Beerdigung taucht eine junge, rothaarige Frau (Anne-Marie Duff) auf. „Tante Julia“ nennt man sie in der Familie, doch John weiß, dass sie seine Mutter ist. Zu seinem Erschrecken muss er feststellen, dass sie die ganze Zeit am anderen Ende des Parks gewohnt hat. Zu seinem Erstaunen aber schließt die Frau, die ihn als kleinen Jungen zu der Tante abgeschoben hat, ihn nun wie einen lang Verschollenen in die Arme. Der junge Mann findet sich in einem eigenartigen Netz aus Begehrlichkeiten und Kränkungen wieder, in dem zwei unterschiedliche Schwestern konkurrierend um ihn werben und ihn jeweils in ihrem Sinn erziehen wollen. Nach dem Vater zu fragen, fällt ihm da fast zu spät ein.
Das Drama dieser Zerrissenheit steht im Vordergrund des Films. Dahinter, drumherum, wie nebenbei ereignet sich das, was das Auftaktkapitel jeder Lennon- und Beatles-Biografie wird. John entdeckt Elvis und den Rock‘n‘Roll, nimmt von irgendwoher die Hartnäckigkeit, Banjo zu lernen und gründet eine Band mit lauter Jungs, die noch nie ein Instrument gespielt haben – und zu denen ein gewisser Paul und ein gewisser George stoßen. Man sieht, wie in dieser Zeit, an diesem Ort das Gesellschaftliche und das Private zusammenkommen, wie mit der Musik etwas Sinnliches und Befreiendes in die karge und strenge britische Nachkriegswelt einbricht. Mit einem bestimmten „Let‘s not be silly“ pflegt Tante Mimi noch jede Sentimentalität zu unterbinden, Mutter Julia aber klärt flüsternd darüber auf, dass Rock‘n‘Roll in Wahrheit für nichts anderes als „Sex“ steht.
He's leaving home
Da hat der Film nichts Peinliches mehr, sondern zeigt auf angemessen individualistische Weise den Ursprung einer kulturellen Revolution, die das 20. Jahrhundert wohl stärker geprägt hat als der Sturm aufs Winterpalais. Man bekommt eine Ahnung davon, dass John Lennon letztlich einer von vielen war, für die Popmusik noch kein Business, sondern in erster Linie ein Ausweg darstellte, um etwas hinter sich zu lassen.
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