Ein Yakuza-Boss spricht auf einer lieblichen Wiese über seine gesunden Organe, die er als Sühne für sein ausschweifendes Leben spenden will, und hat plötzlich ein Messer im Bauch. Igarashi war als einziger in der Nähe und kommt unschuldig ins Gefängnis. Doch das ist ihm genauso egal wie seine anschließende Freilassung. Und ob er danach von einem Auto überfahren wird oder sich nach dem tiefen Blick in ein weinendes Mutterauge in die Flammen stürzt, um die im brennenden Haus zurückgebliebenen Kinder zu retten - immer tut er alles mit steinerner Miene. Und wortlos.
Je mehr Filmzeit von Koufuku no kane (The Blessing Bell) verstreicht, desto lauter wird die Frage: Wo will dieser mit melancholischer Kamera aufgezeichnete Slapstick eigentlich hin?
apstick eigentlich hin? Als Igarashi irgendwann lustlos durch einen Tunnel schlurft und im Mondschein plötzlich in ein Loch fällt, hängt über ihm ein Sternenmeer. Er beginnt zu weinen. Und als er am nächsten Morgen bei noch fahlem Licht aus der Baugrube krabbeln kann, steht vor ihm das Meer. Igarashi starrt eine Weile auf dessen Horizont und beginnt dann, den ganzen Weg, den er bislang gegangen ist, wieder zurückzulaufen - zuerst bedächtig, bald rennend. Da trifft er auf eine kleine Straße, die am Filmbeginn noch nicht zu sehen war. Hier stehen ein paar Frauen, die mit den Einkaufstüten in der Hand tratschen. Schließlich löst sich eine davon und geht auf den Helden zu: »Da bist du also wieder.« »Ja.« Das erste Wort aus seinem Mund wirkt wie das Durchschlagen eines bösen Zaubers. Die beiden gehen in das gemeinsame kleine Haus hinein, wo ihr Kind wartet. Die Tür schließt sich hinter ihnen. »Hast du eine Affäre?« hört man die Frau fragen. »Wie kommst du denn darauf?« fragt er zurück. »Du warst so lange weg.« Als Rechtfertigung beginnt Igarashi mit der Aufzählung seiner Abenteuer. Und im Hintergrund beginnt die Abendglocke des Tokyoter Viertels zu läuten.Regisseur Sabu, der bereits zu den Stammgästen der Berlinale zählt, brachte diesmal einen zwar gewohnt skurrilen, doch langsamen, traurig-ruhigen Film zum Festival. Das bescheidene Haus mit Nachwuchs, das seinen Held nach dem Wahnsinns-Spaziergang durch Tod, Eifersucht und Betrug wieder aufnimmt, lässt sich darin als Fels in der Brandung des modernen japanischen Alltags deuten. Die Familie ist die letzte noch feste Wurzel des traditionellen Lebens in einer Gesellschaft, die wie kaum eine andere im 20. Jahrhundert von Umwälzungen geprägt war und schließlich als »bubble economy« platzen musste.Genau dieser Eckpfeiler erweist sich in einem anderen Beitrag jedoch als morsch - ja mehr noch, als Verursacher allen Elends. Bokunchi (My House) endet nicht mit der Rückkehr in die Familie, sondern setzt mit dieser ein: Nach sechsmonatiger Abwesenheit kommt die elegant gekleidete Mutter zu ihren beiden Jungen zurück, die sie skrupellos auf einer kleinen, rückständigen Insel zurückgelassen hatte. Mit dabei hat sie die wesentlich ältere Schwester der Kinder, die jetzt an ihrer statt bei ihnen bleiben muss. Wo die drei sich nun gemeinsam durchs Leben schlagen, ist das traurige, schmierige, gemeine Ende der Welt. Schule gibt es keine, nur baufällige Häuser, klapperige Autos, sonderbare Versager-Gestalten wie die »Ratten-Lady« und ein einziges (miserables) Restaurant. Aber immerhin: Schutz bietet den im Stich gelassenen Geschwistern das Haus beziehungsweise die Bruchbude, in der sie zusammen kochen, essen und schlafen. Doch eines Tages kommt ein Mann mit einem Plan in der Hand in den kleinen Vorgarten. Die Mutter, die es sich in der Ferne gut gehen lässt, hat das Haus verkauft. Die Schwester ist daher wieder dazu gezwungen, ihrer früheren Tätigkeit nachzugehen und prostituiert sich, um für ihre zwei kleinen Brüder ein neues Heim bezahlen zu können. Brüder? Schon längst hat der Zuschauer an ihrem Verhalten bemerkt, dass der Jüngste in Wahrheit ihr Sohn ist. Und der hat zahlreiche Schläge einzustecken, die er nicht versteht. »Mein Haus ist umgezogen - ich wundere mich, warum« ist dabei noch längst nicht der schlimmste. Am Ende gibt seine geliebte »Schwester« ihn weg. Ein baufälliger Kahn holt ihn von der Insel fort, den ein alter, stinkender Verwandter steuert. Das Kind übergibt sich ins Meer und lächelt seinen neuen Ernährer danach an. Diesen Trick hat er von der Frau gelernt, der er schließlich doch zu viel geworden ist. »Wenn du weinen musst, dann lache.«Auch Junji Sakamoto ist kein Berlinale-Neuling mehr. Diesmal hat er sich an die Kino-Adaption eines für Japan äußerst wichtigen Genres gewagt: Bokunchi heißt eine erfolgreiche Comic-Serie. Diese macht in tragikomischer Manier als Ursache für den Zerfall der Gesellschaft gerade die kaputte Familie aus. Hinter mir die Sintflut, lautet das uneingestandene Lebensmotto der Mütter, wenn ich nur einen »normalen« Typen finden kann, der mir ein schönes Paar Schuhe kauft. Aber lasst mich bitte mit Dingen wie Verantwortung und Beständigkeit in Ruhe!Alles Elend oder Schutz vor Elend - die Familien-Frage wird in Japan ganz unterschiedlich beantwortet. Dass an ihr aber überhaupt so viel hängt, sagt auch schon viel aus - über den Zustand eines Landes, das derzeit zwar nicht vorwärts kommt, aber auch nicht mehr zurück kann.