Familie ist Fluch und Segen zugleich. Diese ebenso einfache wie nicht zu leugnende Wahrheit beschwört das Kino immer wieder. So auch Stephen Karams The Humans, ein emotionsgeladenes Kammerspiel, das der Regisseur und Drehbuchautor von seinem gleichnamigen Theaterstück aus dem Jahr 2016 adaptierte. Als solches erinnert es ganz unmittelbar an Im August in Osage County, das ebenfalls auf einem Bühnenstück basiert und von John Wells im Jahr 2013 mit einem hochkarätigen Cast (unter anderem Meryl Streep, Julia Roberts und Ewan McGregor) verfilmt wurde.
Anders als in Osage County oder ähnlich klaustrophobischen Ehe- und Familiendramen wie Oren Movermans Romanadaption The Dinner (2017) und Roman Polanskis Yasmina-Reza-Verfilmung Der Gott des Gemetzels (2011) gibt es hi
lmung Der Gott des Gemetzels (2011) gibt es hier weder Verletzte noch Tote. Das Unglück, das die sechs Mitglieder des Blake-Clans mit sich herumtragen, ist alltäglicher. Die Gründe für die Mikro-Aggressionen, mit denen sie einander begegnen, sind genau wie die kleinen und großen Verletzungen, die sie einander zufügen, gewöhnlicher .Das Gefühl von Vertrautheit, das Karams mit einem Tony-Award ausgezeichneter Stoff erzeugt, mag weniger nervenzehrend als die scharfen Wortgefechte sein, die verwandte Genrevertreter auszeichnen, die sich für außergewöhnliche Vorfälle und einschneidende Disruptionen interessieren. Gerade die Unaufgeregtheit von The Humans ist es allerdings, die seinen Film so eindringlich macht.Gewöhnlich ist gleich schon der Grund für das Zusammentreffen der Familie: Erik (Richard Jenkins) und Deirdre (Jayne Houdyshell) nehmen, gemeinsam mit Eriks an Demenz erkrankter Mutter, genannt Momo (June Squibb), eine mehrstündige Anreise auf sich, um Thanksgiving bei Tochter Brigid (Beanie Feldstein) in New York zu verbringen. Auch die ältere Tochter Aimee (Amy Schumer) kommt dazu.Brigid ist erst kurz zuvor zusammen mit ihrem fürsorglichen Freund Richard (Steven Yeun) in ein Apartment in Chinatown gezogen. Die bislang nur äußert spärlich möblierte Maisonette-Wohnung ist noch völlig heruntergekommen, der Strom funktioniert nur unzuverlässig, die Fenster und Spiegel sind überwiegend blind, Wasserflecken zieren die Decken und die Farbe droht von den Wänden zu blättern.Die Räumlichkeiten lassen sich beinahe als weiteres Ensemblemitglied bezeichnen. Auch, weil die Wohnung samt den seltsamen Geräuschen, die sie von sich gibt, selbst „lebendig“ zu sein scheint. Wiederholt knarrt der Boden, von oben ist immer wieder Krach zu hören, der eigentlich zu laut ist, um tatsächlich von einer Nachbarin zu stammen, wie Brigid behauptet. Mancher Lärm lässt sich schlicht nicht zuordnen, auch von der Tochter nicht, die auf jede Kritik an ihrem neuen Heim, das einer weiteren Hoffnung, „glücklich“ zu sein, entspricht, dünnhäutig reagiert.Wie ein HorrorfilmLol Crawleys Kamera nutzt die Kulisse, um eine dichte Atmosphäre zu kreieren, die schnell von einer gewissen Paranoia geprägt ist, wie sie auch das Verhalten der Familienmitglieder untereinander bestimmt. In langen Fahrten folgt sie den unübersehbaren Strom- und Wasserleitungen, drückt sie sich durch enge Flure, verhaftet immer wieder an den diversen Mängeln. Mitunter erweckt The Humans auch aufgrund vereinzelter „jump scares“ den Eindruck, es würde sich um einen Horrorfilm handeln.Eingebetteter MedieninhaltStatt eines klar benennbaren Bösen sind es einzig die Blakes, die zwischen den Wänden lauern. Die sich bemühen, nichts Falsches zu sagen, die Fassade aufrechtzuerhalten – und dennoch nicht anders können, als sich all den Kummer und den Frust von der Brust zu reden, der sie umtreibt.Patriarch Erik stört sich bereits an der Wahl der Wohnung. Einerseits aufgrund ihrer Baufälligkeit, andererseits weil sie sich in der Nähe des „Ground Zero“ befindet, mit dem er ein persönliches Trauma verbindet. Zwischen ihm und der jüngeren Generation kommt es auch aufgrund unterschiedlicher Grundhaltungen, vor allem zu finanziellen Dingen, zu Sticheleien. Als Brigid lamentiert, wie anstrengend es sei, täglich nach einem Job zu suchen, macht er sich über ihre Begeisterung für gesundes „Superfood“ lustig, für das sie anscheinend immer noch genügend Überlebenswillen habe.Die Qual mit dem GeldHinter seiner Abgeklärtheit verbergen sich, wie später zu Tage tritt, eigene Geldsorgen. Von denen wird, in Verbindung mit dem Wunsch nach Anerkennung, auch Mutter Deirdre gequält. Sie berichtet von jüngeren Kollegen, für die sie, nach jahrzehntelanger Berufserfahrung, arbeiten muss, und dass sie wegen einer schlechteren Ausbildung wesentlich weniger verdient als sie. Dass ihre Töchter über ihren Glauben Witze reißen, verletzt sie zusätzlich.Die nur noch vor sich hin brabbelnde Momo thront in ihrem Rollstuhl gewissermaßen über all dem als eine Art Symbol – wenn nicht für den Tod selbst, dann zumindest für die Malaise des Vergessens. Zum Beispiel dessen, worauf es im Leben tatsächlich ankommt. In einer Schlüsselszene wird eine E-Mail von ihr vorgelesen, die sie, kurz bevor ihre Krankheit sie gänzlich in Beschlag zu nehmen begann, verfasst hat. Die Quintessenz: Nichts von dem, wovor sie sich gefürchtet hatte, womit sie sich geplagt hatte, war die Sorge wirklich wert.Letztlich sehnen sich alle Anwesenden nach bedingungsloser Liebe. So auch Brigids ältere Schwester, die nach einer aufreibenden Trennung von ihrer langjährigen Partnerin mit Einsamkeit hadert, und deren berufliches Fortkommen als Juristin aufgrund einer chronischen Erkrankung immer weiter in die Ferne rückt. Als „stoische Traurigkeit“ bezeichnet sie das Grundgefühl, das den Familienverband prägt, an einer Stelle. Und sie scheint recht zu haben. Dass die Worte der Großmutter wie ungehört versickern und sich die Blakes umgehend wieder in Streitigkeiten ergehen, unterstreicht das.Alle Anwesenden suchen nach Trost und Zuwendung, scheitern aber daran, zueinander zu finden. Sei es aus Stolz, aus Kränkung oder schlicht der Unfähigkeit zu kommunizieren heraus. The Humans bildet eine Tragödie ab, die geradezu normal ist. Und das ist es, was den Film trotz all der leisen Töne, die er anschlägt, zur überlauten Mahnung werden lässt, es besser zu machen. Auch wenn er sich zu keinerlei Versprechungen aufschwingt, ob ein solches „Besser“ überhaupt möglich ist.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.