Liegend denkt man anders als im Stehen, man kennt das vom Aufwachen und vom Aufstehen. Was uns liegend durch den Kopf geht, gebärdet sich anders, als das, was wir aufrecht stehend denken. Gedanken sind grundsätzlich liegende oder stehende. Es ist nämlich ortsgebunden, was wir denken, und stark davon abhängig, ob es ein waagrechter oder ein senkrechter Ort ist, auf dem wir uns befinden. (Auch Hunde benehmen sich anders, stehen sie vor einem aufrechten Hosenbein oder über einem liegenden Menschen.)
Wer auf Hawaii am Strand liegt, der hat andere Gedanken als jemand, der sich im Gebirge aufhält. Wer die Wellen kommen und gehen sieht, denkt an die Wiederholung des ewig Gleichen, oder er hat aufgehört, an etwas zu denken und lässt es rauschen.
Wer sich im G
Wer sich im Gebirge aufhält, denkt gerne an die Ewigkeit, ohne Wiederholung. Und wie er daran denkt, hängt davon ab, in welchem Gebirge er sich befindet, ob im Fanesgebiet oder am Ortler beispielsweise. Das Fanesgebiet im Osten Südtirols ist zu weiten Teilen eine riesige, von früheren Moränen fein abgeschliffene Felsplatte, die fast waagrecht daliegt. Auf der Stelle verlangt einem nach nichts anderem, als sich ebenfalls hinzulegen - und stundenlang einfach dazuliegen. Man beginnt, ans Unermessliche zu denken. Besonders nachts, wenn man dasselbe im silbernen Mondschein tut und liegend die Sternschnuppen zählt, kommen die Gedanken ans Unermessliche und man denkt über die Unendlichkeit nach, auch, über die persönliche Endlichkeit, will sagen den Tod. Und während man sich Gedanken über die Endlichkeit macht, wird man allmählich selbst ein Teil davon, man wird ein bisschen unendlich. Das geht allen so, das ist bewiesen. Am Ortler dagegen, dem höchsten Berggebiet in Südtirol, will man etwas anderes. Die Gedanken richten sich auf, werden angriffslustig und unbedingter. Gedanken, die angegangen werden wollen wie die Felswand beim Klettern, koste es was es wolle. Da kann es durchaus geschehen, dass ein Paar mit der Gondel auf dreitausend Meter hochfährt und später, mit der letzten Gondel, als getrennte Menschen wieder hinunter. Sie sind nicht die ersten, die angesichts senkrechter Verhältnisse plötzlich radikal durchgreifen. Um hinterher darüber zu erschrecken. Solange sie in der Gondel in fast senkrechter Neige über lauter Abhängen schweben, werden sie ihren letzten Schritt als unausweichlich und längst notwendig betrachten. Erst, wenn sie im Gasthaus sitzen und die Rechnung verlangen, wird sich der Wahnsinn zeigen. Und zwar endgültig, wenn auf die Frage des Kellners nach der Art der Bezahlung ein zweistimmiges "Getrennt" kommt. Dann reibt sich so mancher die Augen und fragt sich, wie es dazu kommen konnte. Der Einheimische weiß es. Es war der Berg und seine kompromisslose Art.Wer nur ein wenig die Ohren spitzt, der bemerkt die Spannung, die von der Ortlergruppe auf die kleine Ortschaft darunter ausgeht, auf die paar Menschen. Sulden zählt 388 Einwohner in der Zwischensaison, nur im Sommer und Winter sind es 5.000 mit den Angestellten und den Touristen. Man kann diese Spannung surren hören wie Stromleitungen im Gewitter. Und man kann die Menschen bewundern, die dieser Spannung standhalten. Wer durchs Dorf fährt bis zur Talsperre, bis zum letzten Haus , und vor sich die Felswände aufragen sieht, der hat den Eindruck, als sei er in ein übergroßes Gebiss hineingefahren, vor dem sich die kleine menschliche Ansiedlung ausnimmt wie ein kleiner Pilzbefall im unteren Lingualbereich. Vierzehn Dreitausender, darunter ein paar Viertausender, schließen direkt an das Dorf in der Talzunge an, umschließen es bogenförmig. Gegen diese senkrechten Riesen nehmen sich die Dolomiten wie unschuldige Milchzähne aus.Jetzt, im Winter, ist das Gebiss der Ortlergruppe blendend weiß und wirkt kräftig und gesund. Im Zentrum der größte von allen, der Ortler, er ist nicht der schönste, unförmig, breit, sein Aussehen vielgestaltig, doch er verschafft sich Respekt. Er ist so hoch, dass seine Spitze fast immer von Wolken umhüllt ist. Links ist die Königsspitze, daneben der Cevedale und so weiter. Alle weiteren Kolosse fügen sich Seite an Seite an die Planken der Mächtigsten. Der meterhohe Naturschnee in den höheren Lagen und jener aus den Schneekanonen weiter unten, bildet ein kompaktes Bergmassiv in glattem Weiß. Auch der untere Bereich, der Zahndamm, in dem bruchlos die weißen Kolosse wurzeln, wirkt glatt und geschmeidig; man würde von einem gut durchbluteten Zahnfleisch sprechen mit rundum gesunden Zahnhälsen. Selbst, wenn die Liftanlagen das weiße Massiv erscheinen lassen wie von einer Zahnspange umklammert. Stationen, Pfeiler, Drahtseile, an denen die Kabinen hängen, verlaufen teils senkrecht zu den Berghälsen, teils waagrecht am Bergdamm entlang. In Wirklichkeit ist es ein altes, krankes Gebiss, es könnte das Gebiss eines gigantischen Pferdekopfs sein. Doch um das zu bemerken, muss man in den Zwischenzeiten dort sein; nicht im Winter, wenn alles befriedet wirkt, nicht im Sommer, wenn die senkrechten Kolosse den Menschen antreiben, sondern im Frühjahr, wenn Gletscher- und Kunstschneedecken aufplatzen und ins Tal donnern - und im Herbst, wenn der Berg am unruhigsten ist und sich aufreibt. Es ist die Zeit, in der sich zeigt, was sich Menschen und Berge hier gegenseitig antun. Am Ende einer Wintersaison, wenn die Schneedecken reißen und die Touristen abgereist sind, ist jeder vereinzelt, so gut wie verloren. Von den knapp vierhundert Seelen findet sich gerade noch die Hälfte im Ort, die andere Hälfte flieht nach Hawaii. Wer übrig bleibt, gibt sich Bastel- oder Ausbesserungsarbeiten hin. Auch die Berge sind jetzt allein. Niemand, der mit geschliffenen Kanten über ihre Rücken hinwegflitzt. Niemand, der sie jetzt besteigen, erobern, bezwingen will. Stattdessen sitzen sie verlassen da, in Matsch, Dreck und Schlamm - den sie den Einwohnern auch gern bis vor die Haustür spucken. Es ist die Zeit, in der man sich gegenseitig nichts vormacht. Man geht ehrlich miteinander um, was heißt: Man mutet sich einiges zu. Der Berg schickt seine Schnee- und Geröllmassen bis weit in die menschliche Zone. Manchmal schwemmt er sogar ein paar Leichen an, die er über geraume Zeit für sich behalten hatte. Mancher mag das Ortlergebiet als gigantische Schöpfung begreifen - es ist in Wahrheit eine gewaltige Destruktion. Das Gestein, auf dem die Spitzen ruhen, ist porös ist und geröllig und erinnert an eine ausgeprägte Parodontose. Der Gletscher, der von dem Schutt- und Geröll farblich nicht zu unterscheiden ist, ist von schwarz umrandeten Löchern übersät, die anzeigen, dass sein Eis faul ist, ein durch und durch angefaulter Gletscher. Würde man blind darüber laufen und einbrechen, man würde über hunderte von Metern ins Gletscherinnere stürzen, bis man vielleicht in eine Gletschertasche hineinplumpste, einem Gletschersee, der sich durch Abtropfen im Innern des Gletschers gebildet hat. Hellblaues Gletschereis sehen, wie wir es uns vorstellen, können wir nur noch dann, wenn wir dem Gletscher tief in seine Spalten eindringen, oder, bedingt durch die Schmelze, die Gletscherdecke sich so gehoben hat, dass sich ein Eingang gebildet hat. Dann kann man wie in eine Kathedrale in ihn eintreten und auf sein geschmeidiges Gewölbe hochsehen. "Das geht an die Substanz", sagte mir ein Hüttenwirt, dem mit den ersten Gletschertropfen die Tränen kamen. "Was hier abtropft, ist die pure Substanz des Gletschers. Er wird so lange abtropfen, bis er nicht mehr da ist." Wenn der Sommer ausklingt, liegt das Massiv im Nebel und im Nieselregen mürbe und auf schöne Weise abstoßend da. Jetzt wird präpariert. Wir fahren in einer Hundertfünfzig-Personen-Gondel über den gesamten Geröllhang nach oben bis zum Skigebiet auf über dreitausend Meter Höhe. Unter uns in der Tiefe mühen sich Laster und Raupen die provisorisch gelegten Serpentinen hoch, über Moränen, Gräben, Furchen und Geröllhaufen. Oben angekommen, finden wir eine Mischung aus Naturpark und Fuhrpark vor. Bagger, Betonmischer, Förderanlagen stehen verteilt über einem dunkel aufgerissenen Erdreich in der Landschaft; Wasserrohre und Leitungen liegen offen auf ihr. Die Sitzgestelle der Sessellifte sind Reih an Reih um einen Pfeiler herum angeordnet. Drahtseilspulen, Turbinen, Umspannungswerke - manche Gegenstände, wären sie ums Hundertfache verkleinert, könnten auch auf der Nähmaschine meiner Mutter ihren Platz haben. Noch sind die Pisten nicht sichtbar, nur an den regelmäßig verteilten Punkten der Schneekanonen, die sich wie Nadelstiche die Hänge hochziehen, kann man ihre Verläufe ausmachen. Was hier vor sich geht, ist eine ruhig und konzentriert stattfindende Verwüstung, die von Berg und Mensch gleichermaßen betrieben wird. Baggerschaufeln, die mit einem speziellen Steinzerkleinerungswerk ausgestattet sind, zermahlen das Steingut auf die Größe von Schotter und Sand; Planierraupen verteilen es über das ganze Skigebiet. Weiter oben, zwischen den Rinnen der Bergspitzen, macht die Natur weiter. Erodiertes Material, kleinere und größere Felsbrocken, rollt und stürzt auf das unentwegt nach unten treibende Geröll. Dieses rutscht unter die Gletscherdecke hinein in das Gletscherinnere. Durch den Hohlraum verstärkt sich das Geräusch des Steinschlags - es bekommt einen Hall. Es ist ein gespenstisches Geräusch, das dabei entsteht. Ein Geräusch wie in Zeitlupe und meist unsichtbar. Von den abrutschenden Geröllmassen ist kaum etwas sichtbar, dennoch hört man ein fortwährendes Rieseln, Poltern und Abstürzen mit halligem Klang. Hier baut die Natur ab - und der Mensch tut es auch.
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