Faustregel gegen Fake

Corona Studien, Expertisen, Theorien überall: Wem soll man glauben? Vielleicht so: Keinem zu hundert Prozent
Ausgabe 08/2021
Do you really want to hurt me?
Do you really want to hurt me?

Foto: Lennart Preiss/AFP/Getty Images

Es gibt so viele Wissenschaften. Welcher soll ich als pandemische Bürgerin da glauben? Der Biologie oder doch der Medizin? Meiner Ärztin vertraue ich. Vielleicht sollte ich mich daneben an die Mathematiker halten, die können wenigstens rechnen. Oder doch an die Soziologie, die mir erklären könnte, wer sich am ehesten ansteckt, weil sie das Sozialverhalten junger Menschen erforscht?

Dem subsoziologischen Fach Statistik glaube ich nicht, denn das habe ich studiert. Und gelernt: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Zumal mir bei den täglich verlautbarten Zahlen weder gesagt wird, wie viele der Toten um die 90 Jahre alt waren oder wie viele der Angesteckten sich auf Partys rumgetrieben haben.

Zumindest bin ich sicher, dass es trotz aller Fortschritte der Nanotechnologie unmöglich ist, jemandem mit der Impfspritze einen Chip einzupflanzen! Erschrocken bin ich darüber, dass eine gute Freundin einem feschen jungen Magister der Bodenkunde glaubt, der sich als Biologe ausgibt: Er „zeigt massive Mängel in der Entwicklung des Impfstoffes auf und wie Bill Gates auf das Zulassungsverfahren eingewirkt hat“. Wie soll ich auf ihre Mail reagieren, in der steht: „Impfen ist keine Wissenschaft, es ist eine Religion ... Es handelt sich um ein Dogma – einen zwingenden Glauben, dessen Infragestellung ein Verbrechen ist“ – wissenschaftliche Esoterik oder esoterische Wissenschaft?

Die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft, das habe ich erst neulich gelesen, ist nicht das Antworten, sondern das Fragen. Und sich zu widersprechen, sobald eine neue Antwort gefunden wurde. Oder, wie der Nicht-Naturwissenschaftler, aber kluge, aufmerksame Essayist – „Essay“ heißt „Versuch“ – Walter Boehlich einmal schrieb: „Die Antwort ist das Unglück der Frage.“

Der von mir ebenfalls sehr geschätzte und inzwischen gleichfalls weitgehend vergessene Biochemiker, Genforscher, DNA-Mitentschlüsseler und brillante Nachdenker Erwin Chargaff schrieb schon vor 33 Jahren über „den jetzt immer häufiger werdenden Schwindel in der Naturforschung“: „Da der dazu Begabte sogar aus Wermut Honig saugt, kann man feststellen, dass die Fülle von wissenschaftlichen Gaunereien, die uns die letzten Jahre enthüllt haben, zumindest das Verdienst beanspruchen darf, die Fadenscheinigkeit des Wahrheitsbegriffes in der Naturforschung klargemacht zu haben.“

Chargaff schrieb aber auch: „Manche wissenschaftlichen Wahrheiten sind solider und besitzen eine größere Widerstandskraft gegen Ersetzung oder Ablösung als andere“: Auch ohne es je gesehen oder gerochen zu haben, glaube ich, dass es dieses Virus gibt, dass es mutieren kann und mutiert ist, dass es sehr ansteckend ist und dass es grauslich und lebensbedrohlich wirkt. Als aufmerksame Staatsbürgerin, die versucht, sich das Hirn nicht durch zu viele Informationen verstopfen zu lassen, die sich deswegen von Twitter, Facebook und sonstigen Kanälen fernhält, bei Bedarf nachfragt oder gar recherchiert, habe ich mir eine belastbare Faustregel erarbeitet: Ich ziehe von dem, was ich höre und lese, das Folgende ab: 20 Prozent Wichtigtuerei, 20 Prozent Marketing, 20 Prozent politischen Opportunismus und 20 Prozent Einfluss von Lobbys.

Auch dann bleibt genug übrig, um die Gefahr einer Ansteckung für ziemlich real zu halten, mich (unwissenschaftlich, irrational) vor dem unsichtbaren Quälgeist zu fürchten, mangels besserer Möglichkeiten einen Mundschutz zu tragen (obwohl das bei Kälte plus Mütze, Brille, eventuell noch Stöpseln im Ohr sehr lästig wurde). Ich versuche, Freundinnen und Straßenbekanntschaften nicht zu nahe zu kommen – und hoffe auf die Fortschritte der Medizin.

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