Weiße Nächte! Lange schon wollte ich mal zu Mittsommer in Schweden oder Finnland sein. Irgendwo, wo die Sonne dies eine Mal nicht untergeht. Wo sie nach Mittag herabsinkt, sinkt und weiter sinkt, kurz das Meer berührt und wieder aufsteigt, ganz so, als gäbe es keine Nacht. Müsste doch zu machen sein.
Am 1. Januar schlage ich den neuen Kalender auf, den mit dem Gummiband, den ich zu Weihnachten jedes Jahr bekomme. Ich schau mir an, wie die Feiertage liegen, trage Geburtstage ein, die mir übers Jahr wichtig sind. Zwei, drei Namen fallen weg, zwei, drei kommen hinzu. Genau jetzt müsste ich meinen Mittsommer-Urlaub planen. Aber nein. Ich denke einfach nicht daran. Nach Weihnachten bin ich noch damit beschäftigt, die passenden Winterschuhe zu bekommen. Und
ommen. Und manchmal im März finde ich sogar welche, die mir gefallen. Irgendwann kriege ich mit, dass die Tage länger werden. Mein Heuschnupfen hilft mir auf die Sprünge. Da weiß ich, die Erlen blühen. Große Freude. Ich male mir aus, wie es sein wird, den ersten Kaffee draußen zu trinken. Aber ich tu´s noch nicht. Ich setze mich erst dann in ein Straßencafé, wenn die Temperaturen es erlauben, ich lass mich doch nicht von der Russischen Erdgasmafia kaufen und nehme Getränke unter einem Heizpilz zu mir. Ich kann warten! Im April fragen mich Freunde, wo es denn im Sommer hingeht. Spätesten jetzt müsste mein innerer Jahresplaner wissen: Mittsommer, der Norden. Aber ich sage, weiß noch nicht, vielleicht dieses Haus in Frankreich wieder. Das war großartig, behauene Feldsteine und umgeben von Weinreben. Ich ernte ein müdes Lächeln. Singapur, Hongkong! Da steppt jetzt der Bär. Wenn du das siehst, wird dir klar, dass die uns demnächst abhängen. Wenn es so ist, denke ich, werd ich das noch früh genug erfahren. Um die halbe Welt reisen, nur um zu sehen, dass es noch verstopftere Straßen als unsere gibt, nö! Im Mai bin ich sehr zufrieden. Es gibt Tage, an denen ich die Ärmel aufkremple. Es gibt Geburtstage, die wir im Grünen feiern. Amseln werben in den Abendstunden um Liebe und Zuneigung. Manchmal möchte man schon in einen See springen. Doch gemach. Der Sommer wird sehr groß, und jetzt sind erst mal die Blumenkästen dran. Die alten Strünke fliegen raus. Frische Farben, hängende Gärten müssen rein. Mit erdigen Fingern beschwöre ich die Saat. Nun Grünzeug, wachse! Dann wird gegossen und gehegt. Aber ach! Die Pflanzen wollen nicht den Versprechungen der Verkäufer folgen. Sie erliegen den Eisheiligen und müssen noch mal ausgetauscht werden. Und dann auf einmal ist Sommer. Auch die Linden sind überrascht und blühen jetzt schnell und mit aller Kraft und duften. Es gibt wieder dieses Blond im Haar, was nur die pralle Sonne zustande bringt. Paradiesische Zustände brechen aus. Die Menschheit trifft sich im Freien. Knapp oder gar nicht bekleidet. Man tobt in den Parks. Hunde und Kinder kugeln durcheinander. Die Freiluftkinos spielen um die Wette. Keiner weiß mehr, ob die Tage oder die Nächte lang sind, alles fließt ineinander. Natürlich gibt es Klagen über die unerträgliche Hitze, nichts ist vollkommen, am wenigsten der Mensch. Ein Radiosprecher sagt es dann: Heute die kürzeste Nacht. Ich erschrecke. Aber ich wollte doch ... Hab es wieder verpasst. Was tun?Die Nacht auf den 24. Juni ist Johannisnacht. Ich verbringe sie mit Freunden im Volkspark Friedrichshain, der jetzt sowieso rund um die Uhr bewohnt ist. Auf dem Rasen lagern Hund und Mensch, man klönt und kifft, wir suchen uns ein freies Plätzchen. Der kleine türkische Laden an der Danziger hat bis morgens um vier auf, kein Problem also, wenn das Bier ausgeht. Zu Johanni, heißt es, könne man, ein Sträußchen gelb blühenden Rainfarns überm Ohr, unsichtbar sein. Ich stell mir vor, wie ich ungesehen durch den Park stromere. Was gäb´s da zu belauschen, wen zu küssen, ohne dass er´s merkt! Aber es wächst kein Rainfarn im Friedrichshain. Ronny, der neben mir auf der Decke fläzt, erzählt von seiner Tante Susi. Susi schlafwandelt, und in Nächten wie dieser muss man um ihr Heil bangen. Sie ist dann rollig und geht auf die Pirsch. Bis jetzt hat sie noch jedes Mal heimgefunden, aber keiner weiß, was sie die Stunden davor getrieben hat. Ich liege auf dem Rücken und warte, dass ich eine Sternschnuppe sehe. Aber keine Sterne, keine Schnuppen, es ist bewölkt. Die Zeit dehnt sich und gähnt. Die Uhren rufen mit eiserner Zunge: zu Bett! Ich nehm noch ein Bier. Ich fürchte, wir werden den Morgen verschlafen, wie wir die Nacht verwacht haben. Irgendwo blitzt ein Fotohandy. Ein Hund mit blinkendem Halsband streunt vorbei. Es ist Feen-Zeit. Nun werden die Tage wieder kürzer, so schnell geht das. Zu Bett also. Meinen Urlaub nehme ich dann Ende September. Ab in den Süden. Das Flugzeug überfliegt die mit erstem Schnee bedeckten Alpen. Wie jedes Jahr.